Franz Ferdinand und die Tschechen

Franz Ferdinand und die Tschechen

Der Thronfolger kam den Tschechen mit seinen Reformplänen nicht entgegen und verkannte ihre Loyalität zur Monarchie

25. 6. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Erzherzog Franz Ferdinand während eines Manövers im Juni 1914 in Bosnien./APZ

Der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand d’Este, der so sehr darauf brannte, seinem alten Onkel Franz Joseph endlich als Kaiser Franz II. auf den Thron zu folgen, fiel am 28. Juni 1914 mit seiner Frau, Herzogin Sophie von Hohenberg, in Sarajevo jäh einem Attentat zum Opfer. In der langen Geschichte von politischen Attentaten gilt dieser Anschlag als die einzige Tat, die zwar nicht die Ursache, aber doch der Auslöser war für weltbewegende Veränderungen. Die Schüsse von Sarajevo markieren das Ende des „langen 19. Jahrhunderts“. Sie waren der Anlass zum Großen Krieg, mit dessen Ende das alte Europa unterging. Das Habsburgerreich musste nach Jahrhunderten der Dominanz in der Mitte des Kontinents einer Vielzahl neuer und kleiner Nationalstaaten weichen, darunter der Tschechoslowakei.

Es nimmt daher kein Wunder, dass in diesen Tagen, da sich der Auftakt zu jenen Ereignissen zum 100. Male jährt, Bücher, Artikel in Zeitschriften und Zeitungen sowie Dokumentarfilme die Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg und seinen Verlauf thematisieren und daraus Lehren für unsere Zeit zu ziehen versuchen. Dies umso mehr, als viele den fast 70 Jahre währenden Frieden in Europa gefährdet sehen. Der vorliegende Beitrag ist bescheidener; er beleuchtet das Verhältnis Franz Ferdinands zu Böhmen und den Tschechen und fragt, welche Erwartungen dieses Land an die Herrschaft des Erzherzogs knüpfen konnte.

An der Oberfläche spricht einiges für ein positives Verhältnis des Thronfolgers zu den Kronländern Böhmens und ihren Bewohnern. Seine größten Besitztümer lagen in Böhmen, noch dazu in tschechisch geprägten Landesteilen: Schloss Konopiště bei Benešov (Konopischt bei Beneschau) und Schloss Chlum bei Třeboň (Chlumetz bei Wittingau). Zudem galt das aufwändig umgebaute Schloss Konopiště als sein und seiner Familie Lieblingssitz. Vor allem aber hatte er sich mit Gräfin Sophie Chotek von Chotkowa, der späteren (ab 1909) Herzogin von Hohenberg, einen Sprössling aus altem tschechischen Adel zur Frau gewählt. Tschechisch sprach Franz Ferdinand nach dem Zeugnis ehemaliger Angestellter leidlich – ganz im Gegensatz zu Ungarisch –, er machte zudem nur selten von dieser Fertigkeit Gebrauch. Schließlich pflegte er ein enges Verhältnis zu vielen böhmischen Aristokraten, von denen manche, zum Beispiel die Grafen Ottokar Czernin und František Thun oder Fürst Karel Schwarzenberg, über viele Jahre zu seinen wichtigen Ratgebern gehörten.

Aus der Sicht der Bewohner Böhmens – der Tschechen und Deutschen – zählten weniger des Erzherzogs Liebe zur böhmischen Landschaft, seine tiefe Verbundenheit mit den königlichen Landsitzen oder auch seine hohe Wertschätzung des Reichtums der böhmischen Jagdgründe. Viel wichtiger erschienen seine politischen Einstellungen und die daraus erwachsenden Pläne für künftige Aktionen nach der zu erwartenden Thronbesteigung. Franz Ferdinand litt unter den von ihm deutlich wahrgenommenen Erosionserscheinungen des habsburgischen Vielvölkerstaates und unter dem allmählichen, seit der Niederlage von Königgrätz 1866 gegen die Preußen sich beschleunigenden Bedeutungsverlust Österreich-Ungarns auf der europäischen Bühne. Vorbei die Zeiten, in denen Metternich auf dem Wiener Kongress die Neuordnung Europas moderierte. Von Franz Joseph, zur Jahrhundertwende schon über 50 Jahre auf dem Thron, war keine Wende zum Besseren zu erwarten. Im Gegenteil, er hatte aus der Sicht des Thronfolgers mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 die Voraussetzungen geschaffen für das schrittweise Auseinanderdriften der beiden Reichshälften und den damit einhergehenden Machtverlust des Monarchen.

Trialismus statt Dualismus
Franz Ferdinand einen Konservativen zu nennen wäre wohl etwas untertrieben. In wesentlichen Punkten waren seine Vorstellungen rückwärtsgewandt; er sehnte sich zurück nach Habsburgs alter Größe und Herrlichkeit, er strebte danach, die Macht der Habsburger Dynastie nach innen und außen wieder aufzurichten. Zunächst sollten über innere Reformen die zentralistischen Strukturen in Österreich wiederhergestellt und gefestigt werden, um das Reich nach außen wieder handlungsfähig zu machen und ihm im Spiel der Mächte Respekt zu verschaffen. Dass Wien immer mehr in die Position eines gelegentlich sogar belächelten Juniorpartners von Berlin geriet, war ihm ein Gräuel. Einen relativen Machtzuwachs erhoffte sich der Thronfolger von einer Erneuerung des Dreikaiserbündnisses zwischen Wien, Berlin und St. Petersburg. In diesem Weltbild kam den gekrönten Häuptern nicht nur eine vorrangige, sondern geradezu absolutistische Rolle zu; für Gedanken an demokratische Veränderungen und soziale Reformen war darin kein Platz. Die um die Jahrhundertwende immer vernehmlicher nach Mitsprache drängenden politischen Kräfte der böhmischen Kronländer, also des industriell am weitesten fortgeschrittenen Teils der Donaumonarchie, hatten natürlich von solchen Vorstellungen wenig zu erwarten.

Seit seiner Militärzeit Anfang der 1890er Jahre im ungarischen Sopron (Ödenburg) war Franz Ferdinand davon überzeugt, dass die Heilung der Gebrechen der Donaumonarchie nur möglich sei, wenn es gelänge, den österreichisch-ungarischen Dualismus zu überwinden, und das hieß: die Sonderstellung der Ungarn zu durchbrechen, von der Doppelmonarchie wieder zu einem monolithischen Staatsaufbau zurückzukehren. Aus diesem Blickwinkel erschien ihm jedes politische Zugeständnis an die Tschechen gefährlich. Denn die Tschechen ihrerseits fühlten sich durch den Ausgleich mit Ungarn zurückgesetzt und waren bestrebt, innerhalb des Reiches auf die gleiche Stufe gestellt zu werden. Die Wenzelskrone sollte nicht länger hinter der Stephanskrone zurückstehen. Als der Thronfolger kurz nach der Jahrhundertwende erwog, das Reich durch die Errichtung einer dritten Säule zu stabilisieren, also eine Art Trialismus einzuführen, wollte er diese dritte Säule ausschließlich aus den südslawischen Völkern des Reiches bilden und die Tschechen bewusst ausschließen. Er forderte, „den Cechen absolut nicht nachzugeben! Wir wissen, wie wir mit dem Dualismus bereits unsere Monarchie an den Rand des Grabes gebracht haben, jetzt soll eine zweite, ebenso eminente Gefahr durch die Cechen entstehen!“ Damit stellte er sich ausdrücklich gegen frühere trialistische Ansätze, etwa aus der revolutionär bewegten Zeit 1848/49 oder dann aus den sechziger Jahren, als man noch an die drei historischen Staaten anknüpfen wollte, die sich 1526 unter dem Zepter Habsburgs zusammengefunden hatten: die Länder der böhmischen Krone, Ungarn und Österreich.

Magyarische Bazillen
Den Gedanken eines südslawisch untermauerten Trialismus ließ Franz Ferdinand bald ebenso fallen wie schon früher Überlegungen zu einem föderalistischen Umbau, die durch seinen Besuch in den USA inspiriert waren. Der Leiter seiner Militärkanzlei und gleichzeitig sein wichtigster Berater, Alexander Brosch von Aarenau, warnte ihn eindringlich vor einem trialistischen Umbau des Reiches: Die Tschechen würden nicht ruhig zuschauen, wenn ihr Land, anders als die südslawischen Länder, weiterhin auf dem Status einer Provinz verharrte. Trialismus sei allenfalls dazu gut, den übermütigen Ungarn etwas Angst einzujagen, ihre Sonderstellung zu verlieren.

Danach ließ sich der Erzherzog eine Zeit lang von dem Vorschlag des siebenbürgischen Rumänen Aurel Popovici begeistern, an die Stelle der Doppelmonarchie „Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“ (so der Titel seiner 1906 in Leipzig erschienen Schrift) zu setzen. Ohne Rücksicht auf die historischen Grenzen der Kronländer sollte Groß-Österreich aus 15 Teilstaaten entstehen – vornehmlich auf der Grundlage der Nationalitäten. So waren als „Böhmen“ die Gebiete ausgewiesen, die später ungefähr das Protektorat Böhmen und Mähren bildeten. Aus den vorwiegend deutsch besiedelten Landesteilen sollten im Norden und Westen Böhmens und in Südmähren zwei deutsche Teilstaaten hervorgehen: Deutschböhmen und Deutschmähren. Die Idee „Groß-Österreich“ traf zwar wegen der Teilung Ungarns in mehrere nationale Teilstaaten (darunter unter anderem die Slowakei) bei Franz Ferdinand auf große Sympathie, doch nahm er letztlich davon Abstand. Mit seiner rückwärtsgewandten Grundeinstellung war eben auch ein tiefer Sinn für historische Zusammenhänge verbunden, so dass er sich scheute, die geschichtlich gewachsenen Grenzen der Kronländer einfach beiseite zu schieben.

Dass Popovicis Plan auf schärfsten Widerstand der Tschechen stoßen musste, war aus der Sicht des Thronfolgers nicht unbedingt das wichtigste Argument. 1911 erarbeitete Brosch auf Geheiß des Erzherzogs ein Regierungsprogramm für die Zeit unmittelbar nach der Thronbesteigung. Dieses rechnete durchaus damit, im Falle von Widerständen notfalls auch das Militär einzusetzen. Widerstand war vor allem von den Ungarn zu erwarten, denn das Programm zielte in erster Linie auf die Durchbrechung des Dualismus, die angebliche Hauptquelle aller Übel. Kernpunkt des Programms war, als eine der ersten Maßnahmen in Ungarn das allgemeine Wahlrecht zu oktroyieren. Das mag überraschen, denn das bereits 1907 von Kaiser Franz Joseph in der österreichischen Reichshälfte eingeführte allgemeine Wahlrecht hatte der Thronfolger mit allen Mitteln zu verhindern versucht, da er davon ein weiteres Ausgreifen der liberalen und (sozial-)demokratischen Parteien befürchtete. Der Widerspruch ist nur scheinbar. In Ungarn hätte das allgemeine Wahlrecht zwangsläufig zu einem Übergewicht der nichtungarischen Völker geführt und damit den Einfluss der ungarischen Herren neutralisiert; wie Ratgeber Graf Czernin gewohnt drastisch formulierte, war es nichts als „eine giftige Medizin, die notwendig ist, um die magyarischen Bazillen zu töten …“

Die politischen Pläne Franz Ferdinands waren nach allem, was wir wissen, insgesamt wenig dazu angetan, die Tschechen mit Hoffnungen zu erfüllen. Den seit der nationalen Erweckung sich ständig verstärkenden Forderungen nach demokratischen und sozialen Reformen stand der Thronfolger verständnislos und ablehnend gegenüber; darin erblickte er schlicht einen Verrat an der Dynastie, eine drohende Erosion der Macht des Monarchen. Diese Einstellung war freilich nicht ethnisch, sondern rein politisch begründet. Mehr noch als die Ambitionen der Tschechen waren ihm die Umtriebe der Alldeutschen verhasst, da er in ihnen eine noch größere Gefahr für den Bestand des Reiches vermutete. Franz Ferdinand verkannte dabei, dass die große Mehrheit der tschechischen Politiker in der Tradition von František Palacký grundsätzlich loyal zu Österreich-Ungarn stand. Das galt gerade auch für ihre herausragenden Vertreter wie Tomáš G. Masaryk oder den Führer der Jungtschechen Karel Kramář. Reaktionäre und klerikale Verbohrtheit machten den Thronfolger blind für das Potential, das er mit einem konstruktiven Zugehen auf die Tschechen gewinnen konnte.

Besser Franz als Hus
In seinem letzten Lebensjahr erwiesen die Prager Stadtväter dem Thronfolger sogar eine besondere Ehre, indem sie die heutige Mánes-Brücke am 11. März 1914 als „Franz-Ferdinand-Brücke“ einweihen ließen, was beileibe keine Selbstverständlichkeit war. Der Thronfolger lehnte den Vorschlag zunächst mit der Begründung ab, es gebe mit der Kaiser-Franz-Brücke und der Franz-Joseph-Brücke in Prag bereits genug „Franz-Brücken“. Dann aber informierte ihn der Statthalter Böhmens, Fürst František Thun, als einzige Alternative sei „Jan-Hus-Brücke“ im Gespräch. Der bis zur Bigotterie fromme Franz Ferdinand wollte natürlich verhindern, dass eine Prager Brücke nach dem böhmischen Ketzer benannt würde, und ließ sich umstimmen. Das Ergebnis war unerwartet: Der Stadtrat nahm einstimmig den Vorschlag an, die neue Brücke nach dem Erzherzog zu benennen. Dass im Stadtrat auch die eifrigsten Vertreter des vaterländischen Hus-Kultes ihr Einverständnis gaben, hatte wohl insgeheim mit dem Kalkül zu tun, es könne sicher nicht schaden, den Kaiser im Wartestand für Prag und Böhmen einzunehmen.

Gerade in Bezug auf Franz Ferdinand wird oft die Frage gestellt, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn der 28. Juni 1914 in Sarajevo ohne Blutvergießen geendet hätte. Darüber kann man nur spekulieren. Eines ist jedoch gewiss: Der erzreaktionäre, von starken Vorurteilen belastete und zu abgewogenem Urteil wenig geneigte Thronfolger mag keinen idealen Herrscher abgegeben haben; aber größeres Unglück als dann mit den beiden Weltkriegen, totalitärer Herrschaft und Abermillionen von Toten über Österreich-Ungarn, Europa und die Welt hereinbrach, hätte Franz Ferdinand nicht bewirken können. Mit ihm konnte eigentlich nur Besseres kommen. Besseres auch für die Tschechen, obwohl sie sich Ende 1918 und nach 1945 zunächst jeweils auf der Gewinnerstraße wähnten.