Wenn die Liebe zur Lüge zwingt

Wenn die Liebe zur Lüge zwingt

Iwan Weidmann spielt in seinem Roman „Ante Finem“ mit den erzählerischen Mitteln. Und erschafft einen packenden und genreübergreifenden Erstling

13. 7. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Foto: privat

Als František Drtikol, Pionier der tschechischen Fotografie, die Bestellwünsche seines Kunden Karl Bessler vernimmt, ist er verwundert. Er fragt ihn, ob er auch Fotograf sei. Schließlich kenne Drtikol seine Käufer und diese würden normalerweise nach anderen Kriterien bestellen. Bessler hingegen habe mit kritischem Auge gewählt, ganz so als sähe er die Dinge mit dem Blick eines Künstlers. Doch Karl, der sich wie ein ertappter Hochstapler fühlt, winkt hastig ab und antwortet: „Nicht doch, nein. Ich bin bloß Arzt“. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit – wie so vieles in „Ante Finem“.

Dass die Leidenschaft des Prota­go­nisten Karl in erster Linie der Fotografie und nicht der Medizin gilt, ist kein Zufall. Denn der Autor Iwan Weidmann teilt diese Liebe mit seinem Protagonisten und war als Texter und Artdirector in der Werbebranche tätig. Mit „Ante Finem“ legt der 50-Jährige sein Romandebüt vor.

Einen Überblick zur Handlung des 208 Seiten starken Buchs zu geben, gestaltet sich schwierig. Denn Weidmann verlässt die herkömmliche Erzählstruktur bereits nach den ersten Sätzen und verwebt sie stattdessen auf mehreren Zeitebenen miteinander. So versetzt der Autor seinen Protagonisten innerhalb weniger Seiten in die erzählerische Gegenwart des Jahres 1968 und kehrt über eine Kindheitserinnerung um 1910 ins Prag von 1928 zur Begegnung mit dem Fotografen Drtikol zurück. Manchen Leser mag der rasche Wechsel der Ebenen abschrecken. Doch Weidmanns unkonventionelles Spiel mit der erzählerischen Ordnung verleiht der ohnehin grandiosen Geschichte eine zusätzlich spannende Komponente. Unterstützt wird dieser Eindruck von einem unzuverlässigen Erzähler, der das Geschehen aus Karls Sicht schildert und dem Leser stets nur das Nötigste verrät.

„Ante Finem“ zeichnet das Lebens Karls nach, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wohl behütete Kindheit in München erlebt. Sein Vater ist ein anerkannter Arzt, der im Ersten Weltkrieg zahlreiche Soldaten vor Amputationen bewahrte, indem er das Vernähen von Wunden revolutionierte. Für seinen Sohn plant er den gleichen Werdegang, den dieser auch einschlägt – damit jedoch den Traum vom Berufsfotografen aufgibt und innerlich mit dem Vater bricht. Bei seinem Aufenthalt in Prag lernt Karl die Tschechin Sophie kennen. Er verliebt sich in die Assistentin des zu der Zeit tatsächlich lebenden Fotografen Drtikol. Doch die beiden verlieren sich aus den Augen und sehen sich erst 15 Jahre später wieder. Die Voraussetzungen sind alles andere als günstig: Karl ist Mitglied der SS und Sophie Jüdin. Doch Karl ist kein überzeugter NS-Anhänger und versteckt seine große Liebe in seiner Münchner Villa. Als der Zweite Weltkrieg wenig später endet, steht er vor einem Dilemma: Soll er Sophie die Wahrheit sagen und damit riskieren, dass sie ihn verlässt? Oder sie weiterhin von ihm abhängig machen, indem er die Illusion der allgegenwärtigen Lebensgefahr aufrechterhält?

Die Lüge fliegt auf
Auch in Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ hielt die Protagonistin ihren Liebhaber nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands an ihrer Seite, indem sie ihm die Wahrheit verschweigt. Anders als bei Timm, fliegt die Scheinwelt bei Weidmann nicht auf – sondern hat 23 Jahre lang Bestand. Dann allerdings beschließt Karl, angesichts seines baldigen Todes, das Lügenkonstrukt einstürzen zu lassen. Dieser Tag ist der Ausgangspunkt der Handlung und zugleich der letzte in Karls Leben. Auf den abschließenden knapp 50 Seiten wechselt die Erzählerstimme und der Leser erfährt  sowohl das bereits Erlebte in Rückblenden als auch das folgende Geschehen aus der Perspektive Sophies.

Weidmann nutzt die erzählerischen Mittel, um seine pack­ende Geschichte auch formal spannend zu gestalten. Dass er damit den Leser – ebenso wie mit teilweise sehr langen und verschachtelten Sätzen – vor große Herausforderungen stellt, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Im Gegenteil: In Wortgebilde wie „Doch bevor er den Gedanken wieder aufnehmen konnte, ging er unter den Bildern des Tages verloren, die so überraschend in seine Erinnerung fielen, wie vor langer Zeit zwischen die Seiten eines Foto­albums gelegte Aufnahmen, die man nicht eingeklebt und längst vergessen hatte“ taucht mancher Leser sicherlich gerne noch ein zweites Mal ein.

Als störend erweisen sich hingegen einige Lektoratsfehler, die hin und wieder den Erzählfluss stocken lassen. Beispielsweise sieht Karl „dieselbe schlanke Statur“ des Vaters im Spiegel und nicht „die gleiche“, wie es eigentlich heißen müsste.

Das soll allerdings der einzige Kritikpunkt an einem mehr als gelungenen Erstling sein, der sich kaum einem bestimmten Genre zuordnen lässt. „Ante Finem“ umfasst nicht nur eine Liebesgeschichte, eine Vater-Sohn-Beziehung und einen Thriller, es ist auch ein historischer Roman mit profunden Gedanken zum Medium Fotografie. Man darf gespannt sein, ob Weidmann die erzählerische Vielfalt und das Niveau seines Debüts auch in einen zweiten Roman einbringt. Für den Leser wäre es jedenfalls wünschenswert.

Iwan Weidmann: Ante Finem. Edition Tiamat, Berlin 2016, 208 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-89320-207-2