„Angst bringt uns nicht weiter“

„Angst bringt uns nicht weiter“

Menschenrechtsminister Dienstbier verurteilt Präsident Zeman und fordert eine sachliche Flüchtlingsdebatte

24. 11. 2015 - Text: Corinna AntonInterview: Corinna Anton; Foto: Karel Pazderka/Vláda ČR

Jiří Dienstbier wollte einmal Präsident werden. Doch der Sozialdemokrat schaffte es anders als Miloš Zeman und Karel Schwarzenberg nicht in die Endrunde. Seit Januar 2014 ist Dienstbier nun Minister für Menschenrechte und Chancengleichheit. In der Flüchtlingsdebatte schlägt er besonnene Töne an – und erhebt schwere Vorwürfe gegen seinen ehemaligen Konkurrenten Zeman. PZ-Redakteurin Corinna Anton sprach mit dem Sohn des gleichnamigen Dissidenten und ersten Außenministers der postkommunistischen Tschechoslowakischen Republik.

In Tschechien und ganz Europa wird derzeit viel über Angst gesprochen – vor Terrorismus, aber auch vor dem Islam und vor Flüchtlingen. Haben Sie auch Angst?

Jiří Dienstbier: Ich würde nicht sagen, dass ich Angst habe. Die Situation in Europa ist ohne Zweifel ernst, ob wir nun über Terrorismus sprechen oder über die Flüchtlingskrise – obgleich ich beides nicht automatisch miteinander verbinden würde. Es ist gefährlich, Zusammenhänge zwischen der Flüchtlingskrise und den Terroranschlägen in Paris herzustellen. Die Mehrheit der Täter waren Menschen, die in Europa geboren wurden, Bürger europäischer Staaten. Man muss die Wurzeln für diese Taten also anderswo suchen, nicht in der derzeitigen Migrationsbewegung …

… die für Tschechien eher eine untergeordnete Rolle spielt …

Dienstbier: Während Europa als Ganzes derzeit eine ernsthafte Flüchtlingskrise durchlebt, gilt das für Tschechien nicht. Menschenmassen sind hier bisher nicht angekommen. Bei uns handelt es sich eher um eine gesellschaftliche Krise der Angst vor etwas, was bis heute nicht stattfindet, von einigen aber wissentlich für politische Interessen missbraucht wird. Ich behaupte nicht, dass es gar keinen Grund zur Sorge und zur Vorsicht gibt. Natürlich muss man Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, aber auf der anderen Seite sollte die Debatte sachlich geführt werden. Man sollte darüber sprechen, dass es unsere Pflicht ist, Menschen aufzunehmen und ihnen zu helfen, wenn sie einen Anspruch auf Asyl haben. Wir müssen auch darüber reden, wie wir diese Menschen integrieren – gerade um zu verhindern, dass in Zukunft Spannungen drohen, im Extremfall sogar Gewalttaten. Eine Atmosphäre der Angst hilft da natürlich nicht weiter. Statt­dessen müssen wir erklären, dass es bereits viele Menschen gibt, aus Syrien oder anderen islamisch geprägten Ländern, die sich gut bei uns integriert haben.

Schon im September haben Sie gefordert, Tschechien könnte bis zu 15.000 Flüchtlinge aufnehmen. Gilt das immer noch?

Dienstbier: Ich habe gesagt, dass wir ohne Zweifel in der Lage sind, viel mehr Menschen aufzunehmen, als es in der Debatte über eine europäische Quote vorgesehen war. Damals brachen hierzulande Ängste aus, dass wir 400 oder 600 Flüchtlinge und später weitere 1.500 aufnehmen müssen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass wir in der Vergangenheit Hunderttausende aufgenommen haben, im Fall der Jugoslawienkriege sogar große Mengen auf einmal. Und ich habe auf das Angebot des Industrie- und Verkehrsverbands hingewiesen, dem zufolge tschechische Unternehmer bereit wären, sofort 5.000 Flüchtlinge einzustellen. Ich habe gezeigt, dass allein aufgrund dieses Angebots etwa 15.000 Menschen zu uns kommen könnten – wenn man die Familien mitrechnet. Sie würden schnell Arbeit finden, was eine wichtige Voraussetzung für die Integration ist.

Ihre Regierung stellt sich klar gegen feste Quoten. Und auch Sie gehören zumindest nicht zu ihren Befürwortern.

Dienstbier: In der Debatte um die Umverteilung habe ich betont, dass man eine verbindliche Quote ablehnen kann, weil sie allein keine Lösung wäre. Wenn wir nicht verpflichtet werden, sondern freiwillig helfen wollen, müssen wir aber ein seriöses Hilfsangebot machen. Wir können unsere europäischen Partner nicht alleine lassen.

Mit solchen Positionen sind Sie in der Regierung noch immer ziemlich allein. Besonders ihr Parteikollege Innenminister Milan Chovanec steht für eine kompromisslose Politik gegenüber Flüchtlingen. Ist die Abschreckung eine bessere Strategie, als den Flüchtlingen ein freundliches Gesicht zu zeigen, wie es zum Beispiel Kanzlerin Merkel in Deutschland macht?

Dienstbier: Frau Merkel ist natürlich in einer etwas anderen Situation. Deutschland ist das Zielland für die meisten Flüchtlinge oder Migranten. In der tschechischen Regierung gibt es derzeit nicht den Willen, konkrete Zahlen festzulegen. Aber zumindest haben wir uns darauf geeinigt, dass wir freiwillig helfen wollen. Meine Position ist, dass wir unser freiwilliges Angebot konkretisieren müssen, damit unsere Position verständlicher wird.

Am Freitag hat die Regierung einen neuen Integrationsplan verabschiedet, der auch Hilfen für Flüchtlinge vorsieht. Ist das ein Schritt in Richtung einer freundlicheren Migrationspolitik?

Dienstbier: Der Plan knüpft vor allem an die von der EU beschlossene Umverteilung an, derzufolge Tschechien etwa 2.000 Menschen aufnehmen soll. Das Programm rechnet mit etwas mehr Menschen. In dieser Hinsicht ist das keine grundlegende Wende. Wir schaffen die Voraussetzungen für die Inte­gration dieser Menschen, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder in Bezug auf Wohnen, Sprach­unterricht und Sozialarbeit. Das sind aber eher technische Bedingungen für die Integration. Wichtig ist die Akzeptanz seitens der Gesellschaft. Ohne die ist eine erfolgreiche Integration nicht möglich. Und das ist in der gegenwärtigen Atmosphäre der unnötigen Angst sehr schwierig.

In diesem Kontext haben Sie Präsident Miloš Zeman in der vergangenen Woche vorgeworfen, er bereite den Nährboden für die Entwicklung zu einer faschistischen Gesellschaft in Tschechien. Das sind scharfe Worte, in sozialen Netzwerken wurden Sie dafür heftig kritisiert. Haben Sie die Worte bewusst gewählt oder war es eine spontane Reaktion?

Dienstbier: Nein, das war keine spontane Reaktion. Ich beobachte die Standpunkte des Präsidenten schon länger, aber mit seinem Auftritt am 17. November an der Seite einiger der schlimmsten Vertreter der derzeitigen extremistischen Szene hat der Präsident eine gewisse Grenze überschritten. Er hat etwas gemacht, was sich meiner Meinung nach in einer anständigen Gesellschaft nicht gehört, was man von keinem demokratischen Politiker erwartet, vor allem nicht von einem Staatsoberhaupt. Auch seine vorhergehenden Äußerungen, zum Beispiel dass die Flüchtlingskinder lebende Schutzschilder für eine Armee junger Islamisten seien, die unsere europäische Zivilisation zerstören wollen, oder dass Muslime hier Frauen steinigen und Hände abhacken wollen, sind aus dem Mund eines Präsidenten einfach nicht hinnehmbar. Aber der Gipfel war, dass er sich einverstanden erklärt hat, auf einer Bühne mit Martin Konvička zu stehen, für den Muslime zu Fleisch- und Knochenmehl gemahlen werden sollten. Und so jemand ist ein Partner des Präsidenten der Tschechischen Republik? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Politiker in Deutschland oder einem anderen fortschrittlichen europäischen Land am nächsten Tag noch im Amt bliebe, wenn er mit so jemandem auftreten würde. Deshalb habe ich auf diese Weise reagiert. Das Problem ist, dass der Präsident den Menschen vermittelt, dass das, was Leute wie Konvička verkünden, normal sei. Dass es eine legitime Position ist, die jeder verbreiten kann. Meiner Meinung nach wurde dabei auch gegen die Grundprinzipien der Verfassung verstoßen. Und ich betone noch einmal: Wir sprechen nicht über irgendeinen gewöhnlichen Bürger, sondern über das Staatsoberhaupt.

Wie wollen Sie gegen die Ängste und diejenigen, die solche Ängste weiter schüren, ankämpfen?

Dienstbier: Das ist Aufgabe der Politiker und aller Eliten. Sehr wichtig sind natürlich auch die Medien. Es ist schon möglich, zu einer sachlichen Debatte beizutragen. Aber das Auftreten des Präsidenten macht es sehr schwierig. Denn die Präsidenten­kanzlei ist eine Institution, die hierzulande traditionell große Autorität genießt. Trotzdem muss man es versuchen. Man darf natürlich die Sicherheit nicht vergessen. Doch sollte man gleichzeitig auch über die humanitäre Dimension reden. Es geht vor allem um verzweifelte Menschen, die vor Kriegen, aus zerstörten Städten fliehen. Wenn wir über europäische Werte sprechen, dann gehört dazu auch, Menschen zu helfen, die in Not sind. Und wir müssen darüber sprechen, wie wir eine starke, bunte Gesellschaft aufbauen, die in der Lage ist, jeden zu integrieren. Das betrifft natürlich nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Menschen, die schon lange hier leben und die wir auch nicht erfolgreich einbeziehen.

Wenn wir über die humanitäre Dimension sprechen: Die Zustände in den tschechischen Flüchtlingsunterkünften wurden oft kritisiert. Wie sieht es jetzt aus?

Dienstbier: Die Lage hat sich in allen Einrichtungen deutlich verbessert. Zum einen, weil die Zahl der Menschen, die dort untergebracht sind, zurückgegangen ist. Wir haben aber auch das Personal der Einrichtungen aufgestockt, ebenso die Dolmetscher, es gibt mehr Sozialarbeiter, insgesamt sind die Bedingungen würdiger geworden. Es gelingt uns jetzt besser, dafür zu sorgen, dass die Rechte der Flüchtlingen in diesen Einrichtungen garantiert werden, zum Beispiel der Anspruch auf Rechtsbeistand. Ich habe allerdings immer noch Vorbehalte dagegen, dass solche Haftanstalten überhaupt in so großem Umfang genutzt werden, denn wir sind die einzigen in der Region, die so gegen Flüchtlinge vorgehen. Ich glaube nicht, dass es nötig ist, die Menschen hinter Stacheldraht einzusperren, wenn nicht von einer konkreten Person ein Sicherheitsrisiko ausgeht.

Die meisten Flüchtlinge in diesen Einrichtungen wollen nicht in Tschechien bleiben, sondern weiter nach Deutschland. Sollte man sie zum Bleiben überreden?

Dienstbier: Das kommt drauf an, welches Verhältnis sie zu Tschechien haben, ob sie überhaupt interessiert sind, hier Asyl zu beantragen. Formal hat jeder diese Möglichkeit. Und diejenigen, die einen Antrag stellen, kommen in der Regel auch in eine bessere Lage, werden an einem anderen Ort untergebracht. In den Haftanstalten werden vor allem die festgehalten, die hier kein Asyl beantragen. Genau da liegen meine Vorbehalte gegenüber diesen Haftanstalten. Wir halten die fest, die in ein anderes Land wollen. Wenn es uns nicht gelingt, sie nach den Regeln der Dublin-Beschlüsse zum Beispiel nach Ungarn zurückzuschicken, dann setzen wir sie nach einer bestimmten Zeit vor die Tür und lassen sie dorthin, wohin sie ohnehin wollten. Es hat also überhaupt keinen Sinn, dass wir sie festhalten. Das trägt nicht zur Lösung der Flüchtlingskrise bei.

Sie haben vor kurzem mehrere Grenzübergänge in Serbien, Kroatien und Slowenien besucht. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Dienstbier: Ein Ziel meiner Reise war, den tschechischen Freiwilligen zu danken, die dort in einer sehr schwierigen Situation Hilfe leisten. In einigen Fällen ist ihr Beitrag grundlegend, ohne sie wäre die Lage mancher Flüchtlinge noch komplizierter, weil die Freiwilligen – in der Regel unter der Schirmherrschaft gemeinnütziger Organisationen wie der Caritas und in Zusammenarbeit mit den Einheimischen – für Essen, Kleidung, Windeln und anderen Grundbedarf sorgen. Gleichzeitig helfen sie organisatorisch, die Situation zu bewältigen. Außerdem wollte ich mir einen Überblick über die Lage verschaffen. An diesen Grenzübergängen kommen täglich 4.000 bis 8.000 Menschen an. Das ist natürlich sehr schwer zu bewältigen. Interessant war auch zu erfahren, wie unsere Polizisten und Soldaten in Slowenien arbeiten. Sie helfen dort mit der Registrierung, die an allen Außengrenzen des Schengenraums durchgeführt werden sollte, damit jeder Flüchtling erfasst wird.

Nach den Terroranschlägen in Paris forderten Politiker in ganz Europa, diese Außengrenzen besser zu schützen, so auch Vize-Premier Andrej Babiš. Er sagte außerdem wörtlich: „Wir sind im Krieg.“ Dieser Aussage stimmen laut einer Umfrage vom vergangenen Wochenende zwei Drittel der tschechischen Bürger zu. Sie auch?

Dienstbier: Die Frage ist, mit wem. Wenn das eine Reaktion auf die Terroranschläge war, dann würde ich sagen, dass wir ohne Zweifel in einem Konflikt – ob man dazu nun Krieg sagt oder nicht – mit den Terroristen oder dem Islamischen Staat sind. Auf keinen Fall aber mit den Flüchtlingen.