150.000 Seiten Pilsen
Die Internetbibliothek „Pilsna Digitalis“ bietet einen umfassenden Einblick in die publizistische Vergangenheit der Kulturhauptstadt Pilsen. Ein Gespräch mit Projektleiter Jan Schrastetter
7. 10. 2015 - Text: Stefan WelzelInterview: Stefan Welzel; Foto: Jan Schrastetter/DiFMOE
Vor sieben Jahren wurde in München das „Digitale Forum Mittel- und Osteuropa e.V.“ (DiFMOE) gegründet. Der Verein verfolgt das Ziel, historische Druckwerke multiethnischer Kulturlandschaften im östlichen Europa – auch und besonders solcher mit ehemals oder noch bestehenden deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Bevölkerungsanteilen – zu digitalisieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zunächst ging es darum, ehemalige deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften zu erschließen. Inzwischen hat sich das Spektrum aber auf Publikationen unterschiedlicher Formen und Sprachen erweitert. Das gesammelte Material soll einen möglichst repräsentativen Eindruck von der Geschichte einer Stadt oder Region vermitteln. Mit dem Projekt „Pilsna Digitalis“ präsentiert DiFMOE einen einzigartigen historischen Blick auf Pilsens Öffentlichkeit und Alltag, Gebäude und Kulturgüter, Wirtschaft und Industrie und auch auf die Befreiung von der deutschen Okkupation im Jahr 1945. Dazu gehören rund 300 Bilder aus dem Stadtarchiv Pilsen. Alle bisherigen Kulturhauptstadtprojekte des Digitalen Forums wurden beziehungsweise werden von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Der 42-jährige Kulturwissenschaftler Jan Schrastetter ist Mitbegründer von „DiFMOE“ und Projektleiter der Online-Bibiliothek „Pilsna Digitalis“.
Herr Schrastetter, Sie und Ihre drei Mitarbeiter von DiFMOE haben für die „Pilsna Digitalis“ 150.000 Seiten historisches Schriftgut digitalisiert. Wie lange braucht man für so eine Mammutaufgabe?
Jan Schrastetter: Die reine Umsetzungsphase beträgt rund zehn bis zwölf Monate – ein relativ kurzer Zeitraum. Das ist dem Umstand geschuldet, dass wir nacheinander vier verschiedene Kulturhauptstädte mit einem solchen Projekt bearbeiten. Aber natürlich geht jeweils eine Planungsphase mit Recherche und Selektion voraus. Wir beginnen jeweils im Frühling des Vorjahres mit den Planungen und beenden das Projekt im Verlauf des Kulturhauptstadtjahres. Und wenn die Bibliothek einmal steht, wird natürlich laufend nachgebessert. Hinzu kommt noch die Öffentlichkeitsarbeit, die sich den Kernaufgaben Recherche, Selektion, Digitalisierung und Implementierung anschließt. Ein nicht geringer Teil unserer Tätigkeit beinhaltet außerdem die Erfassung aller bereits vorhandenen Digitalisate zum Thema, um Doppelungen zu vermeiden.
Und das haben Sie alles zu viert bewältigt?
Schrastetter: Recherche und Digitalisierung ja. Aber natürlich sind wir bei Sichtung und Selektion auch auf Partnerinstitutionen wie Archive und Bibliotheken angewiesen. Wir selbst verfügen ja nicht über die Originalvorlagen. Im Gegenzug erhalten unsere Partner die auf Basis ihrer Originalvorlagen erstellten Digitalisate frei Haus. Das ist der Deal. An der Pilsna Digitalis haben 15 Einrichtungen mitgewirkt. Am meisten beigesteuert hat das Prämonstratenser-Kloster Teplá. Auch die Pilsner Stadtbibliothek war sehr großzügig. Und das Stadtarchiv hat eine nützliche Vorauswahl an Fotografien vorgenommen. Natürlich sind es stets die Experten vor Ort, die das umfangreiche Material am kompetentesten beurteilen können.
Sie haben schon für die europäischen Kulturhauptstädte Riga und Košice Online-Archive erstellt. Welches Projekt war bisher das größte?
Schrastetter: Vom Budget her sind alle Projekte gleich angelegt. Es waren beziehungsweise sind jeweils 100.000 Seiten geplant. Aber wir versuchen immer möglichst viele Synergien im Kontext unserer Partnerschaften zu nutzen. Beim Pilsener Projekt konnten wir ein spezielles Tauschgeschäft mit der Österreichischen Nationalbibliothek vornehmen. Dabei tauschten wir bestimmte Jahrgänge des „Pilsner Tagblatts“ und der „Westböhmischen Tageszeitung“, die wir von Mikrofilmen des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart digitalisiert hatten, mit anderen Jahrgängen, die nur in Wien zu finden waren. Dank dieser Zusammenarbeit kamen wir nicht nur auf die geplanten 100.000, sondern auf insgesamt 150.000 Seiten. Bei der Riga Digitalis konnten wir über ein ähnliches Vorgehen zusammen mit der Lettischen Nationalbibliothek das Volumen sogar verdoppeln.
Gab es auch Probleme im Umgang mit ausländischen Institutionen und Behörden?
Schrastetter: Es gab bei der Beantragung der Sichtung bestimmter Quellen die typischen administrativen Hürden. Doch dank unserer Partner vor Ort konnten wir diese relativ problemlos meistern.
Und die mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg oftmals belastende gemeinsame Geschichte Deutschlands mit Tschechien, Lettland oder der Slowakei führte nie zu Dissonanzen?
Schrastetter: Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Man ist ja meist unter Kollegen, da besteht das Interesse am Gegenstand als verbindendes Element. Missgunst gegenüber uns Deutschen haben wir nie wahrgenommen. Es überwiegt insgesamt eindeutig die Freude über die entstehenden internationalen Synergieeffekte, die unsere Projekte fördern. Das dabei entstehende Netzwerk erweitert ja nicht nur unsere Kooperationsmöglichkeiten, sondern auch diejenigen all unserer internationalen und heimischen Partner. Wir von DiFMOE wirken quasi als Scharnierstelle.
Was für ein Publikum wollen Sie erreichen?
Schrastetter: Laienhistoriker, Familienforscher und Fachleute gleichermaßen. Man kann sich als Laie relativ schnell einen guten Überblick über das literarische und publizistische Schaffen einer Stadt verschaffen. Sogenannte Klein- und Sonderdrucke vermitteln ein sehr detailliertes Bild der damaligen Alltagswirklichkeit. Und mittels alter Adressbücher oder Zeitungen ist das Material vor allem für Familienforscher interessant. Uns geht es aber auch darum, Wissenschaftlern eine digitale Infrastruktur in einem sehr spezifischen Nischenbereich zu bieten.
Welche Bedeutung und Folgen hat die Digitalisierung von Quellen für die Geschichtswissenschaft?
Schrastetter: Das ist zugegebenermaßen ein zweischneidiges Schwert. Es wurde bisher schon sehr viel digitalisiert, aber bei Weitem nicht alles. Und es ist die Tendenz festzustellen, dass vor allem Studenten überwiegend Quellen nutzen, die online verfügbar sind. Das schränkt aber den Fokus automatisch ein. Andererseits bietet die Digitalisierung raschen Zugriff von überall her und schont die historischen Materialien.
Was waren für Sie persönlich die spannendsten Einzeldokumente, die Sie in Pilsen digitalisiert haben?
Schrastetter: Ich habe mich immer wieder dabei erwischt, wie ich in bestimmte Themenfelder regelrecht eingetaucht bin. Besonders oft ist mir das bei den stadthistorischen Ausführungen des Pilsener Bürgermeisters Martin Kopecký passiert, der mit seinen Schriften einen faszinierenden Einblick in den Alltag des 19. Jahrhunderts lieferte. Aber auch die Prämonstratenser-Gelehrten wie Alois Martin David oder Joseph Stanislaus Zauper mit ihren Publikationen zu Astronomie, Poesie oder Theologie vermögen zu fesseln. Ein Höhepunkt ist das älteste digitalisierte Dokument, das auf Tschechisch von der Einnahme Pilsens durch den Grafen von Mansfeld während des Dreißigjährigen Krieges berichtet. Solche Quellen versprühen eine ganz besondere historische Aura.
Nächstes Jahr ist Breslau Kulturhauptstadt Europas. Wie weit sind Sie mit diesem Projekt?
Schrastetter: Daran arbeiten wir gemäß unserem Rhythmus seit dem späten Frühjahr 2015. Unter anderem hat uns die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne den Kontakt zur Breslauer Universitätsbibliothek vermittelt. Ein Ergebnis des bereits erwähnten Netzwerkes, das wir über die Jahre erfolgreich aufgebaut haben. Im Falle Breslaus existiert aber auch sehr viel Material in Deutschland, zum Beispiel in der Martin-Opitz-Bibliothek, im Haus Schlesien in Königswinter oder im Kulturwerk Schlesien in Würzburg. Und so wie es aussieht, werden wir auch dieses Mal mit der Schlesischen Zeitung wieder eine deutschsprachige Tageszeitung im digitalen Tausch erhalten.
Mehr unter www.difmoe.eu und www.pilsna-digitalis.eu
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