„Ich habe für meine Gedichte den Kopf hingehalten“
Der Schriftsteller und Übersetzer Reiner Kunze über Schikanen im Kommunismus, seine Liebe zur tschechischen Literatur und viele Missverständnisse
13. 10. 2017 - Text: Klaus Hanisch, Titelfoto: Schelm, CC BY 3.0Text: Klaus Hanisch, Foto: Reiner Kunze im Jahr 2012 auf einer Lesung im Jazzclub "Session 88" im schwäbischen Schorndorf / © Schelm, CC BY 3.0
Er gehört zu den bedeutendsten Dichtern seiner Generation und zu den wichtigsten Übersetzern tschechischer Autoren in die deutsche Sprache. Reiner Kunze ist ein Chronist seiner Zeit – und selbst eine Person der Zeitgeschichte. 1976 wurde er aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Von der Stasi bespitzelt und isoliert, reiste Kunze 1977 in die Bundesrepublik Deutschland aus. Im gleichen Jahr erhielt er den Georg-Büchner-Preis, der als renommiertester Literaturpreis im deutschen Sprachraum gilt. Seit Jahrzehnten wird Reiner Kunze mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet, 2014 auch mit dem „Gratias agit“ des tschechischen Außenministeriums für seinen Beitrag zur Förderung des Ansehens der Tschechischen Republik im Ausland.
PZ: Sie begannen vor fast 60 Jahren mit einer Tschechin einen Briefwechsel, der am Ende angeblich 4000 Briefe umfasst haben soll – und Ihre Briefpartnerin (Elisabeth Mifka) wurde später Ihre Frau. Damit hätten Sie auch das Land und die Sprache geheiratet, wurden Sie zitiert. Was sind das für Menschen, diese Tschechen?
Reiner Kunze: Die Radiohörerin, die den Briefwechsel auslöste, war eine Deutschböhmin (die Mutter war Tschechin, der Vater Deutscher), und es waren am Ende nur 400 Briefe – aber sie reichten. Was die Tschechen für Menschen sind? Menschen wie Sie und ich.
In den letzten Jahrzehnten haben Sie Dutzende von Werken tschechischer Lyriker und Prosaautoren übersetzt, darunter Nobelpreisträger Jaroslav Seifert, Ludvík und Milan Kundera. Was ist das Besondere an der tschechischen Literatur?
In der tschechischen Literatur bricht sich einzigartig europäisches Licht in slawischem Empfinden. Der Winkel, in dem das Licht an die Oberfläche der tschechischen Poesie und Prosa austritt, wird bestimmt von einer langen anerlittenen Wehmut, einem feinen fatalistischen Lächeln, einem Zorn, der seine Stunde abwartet, und selbsterlösendem Humor.
Vor einigen Jahren sollen Sie ein Buch von Jáchym Topol schnell beiseitegelegt haben, weil es Ihnen zu artifiziell erschien. Wird die neue Generation der Topols und Vieweghs der großen Tradition tschechischer Literatur nicht mehr gerecht?
Wir, meine Frau und ich, waren der Meinung, nicht kompetent zu sein, dieses Topol-Buch zu übersetzen. Uns fehlte das deutsche Vokabular, da wir keinerlei Beziehung zu dem sprachlichen Milieu hatten, das in diesem Buch vorherrscht. Darüber urteilen zu wollen, ob die neue Generation der großen tschechischen Literatur gerecht wird, steht uns nicht zu. Wir kennen viel zu wenig.
Oft wird die tschechische Sprache verteufelt, wegen ihrer vielen Akzente, Konsonanten, Fälle. Was hat sie daran fasziniert?
Daß meine Frau und die tschechische Poesie sie sprechen.
Sie wohnen schon seit vielen Jahren in der Nähe von Passau in Niederbayern. Böhmen liegt nicht weit weg. Spielte dies bei der Ortswahl eine Rolle?
Nein. Bei der Ortswahl spielte eine Rolle, daß ich damals schon Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste war. Unsere Ausbürgerung aus der DDR vollzog sich fast über Nacht, und in Bayern hatten wir Freunde.
Sie sagten einmal, Prag sei europäische Mitte, dessen es sich erinnern und in Europa einbringen solle. Mit welchen Erwartungen verfolgen Sie die anstehenden politischen Wahlen zu Parlament und Präsidentschaft in Tschechien?
Um uns zu den anstehenden politischen Wahlen äußern zu können, kennen wir uns in der tschechischen Innenpolitik inzwischen zu wenig aus.
Manch tschechische Familie ist gespalten in ihrem politischen Urteil. Ist es bei Ihnen ähnlich oder sind Sie sich mit Ihrer Frau Elisabeth einig?
Ich wüßte nicht, worin wir uns nicht einig wären.
Fürchten Sie aufkommenden Nationalismus in Tschechien und Deutschland?
Nationalismus muß man überall fürchten.
In den sechziger Jahren sollen Sie öfter im Prager Café Slavia gesessen und tschechische Schriftstellerfreunde getroffen haben. Dabei sei von einer besseren Welt ohne Zensur geträumt worden, wurde mancherorts berichtet. Auch sollen heimlich Fluchtpläne geschmiedet worden sein. Ist dies Schriftsteller-Romantik oder war es tatsächlich so?
Daß ich mich in den sechziger Jahren öfter mit tschechischen Schriftstellern im Café Slavia getroffen habe, stimmt. Alles andere ist Unsinn. Wir haben nie an Flucht gedacht. Ich weiß auch von keinem Gespräch, in dem einer unserer tschechischen Freunde angedeutet hätte, fliehen zu wollen.
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings traten Sie aus der SED aus und protestierten auch mit Gedichtbänden gegen den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968. Danach wurden Sie noch intensiver bespitzelt, die Stasi legte eine Akte mit Deckname „Lyrik“ an, Sie konnten fast nur noch im Westen veröffentlichen. Haben Sie bei all diesen Schikanen manchmal bereut, so lautstark protestiert zu haben?
Das Entstehen eines originären dichterischen Einfalls unterliegt nicht dem freien Willen des Autors, und dem Willen des Autors unterliegt auch nicht, was in den Einfall an Wirklichkeit eingeht, denn das bestimmt die Lebenswirklichkeit. Hat der Einfall die Prüfung durch das kritische Bewußtsein bestanden, besteht die Freiheit des Dichters – will er seiner Verantwortung gegenüber der Poesie und den Menschen gerecht werden – einzig und allein darin, dem Einfall zu folgen. Das Gedicht kann nicht umkehren, umkehren kann nur der Autor. Verfälscht er die Wahrheit, die durch die Wirklichkeit ins Gedicht gelangt ist, stirbt das Gedicht. Ich habe manches im Leben zu bereuen, nicht aber, daß ich für meine Gedichte den Kopf hingehalten habe.
Vor genau 40 Jahren zwang man Sie zur Ausreise aus der DDR, nachdem Sie in dem Buch „Die wunderbaren Jahre“ aufgezeigt hatten, dass diese DDR bar jeder Wunder und Illusionen sein kann. Nicht wenige Ostdeutsche treibt heute eine Sehnsucht nach dem verlorenen Land um. Wie sehr wundert Sie das?
Das wundert mich überhaupt nicht, weil Menschen Menschen sind. Ich hoffe jedoch, dem Buch „Die wunderbaren Jahre“ kann man nicht entnehmen, die DDR sei „bar jeder Wunder und Illusionen“ gewesen. Überall, wo Menschen leben, gibt es Wunder und Illusionen.
Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann bemühte sich die DDR-Spitze, wie bei Manfred Krug, eine Ausreisewelle von Prominenten zu verhindern. Sie aber zwang man dazu. Warum blieb man bei Ihnen so unerbittlich?
Ich habe den Protest gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann nicht unterzeichnen können, da ich den Text gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Man hatte wohl befürchtet, manche Kolleginnen und Kollegen würden es ablehnen zu unterschreiben oder ihre Unterschrift zurückziehen, wenn sie erfahren hätten, daß ich zu den Mitunterzeichnern gehöre. Durch eine gezielte Indiskretion aus dem Politbüro der SED erfuhr ich, daß ein Prozeß gegen mich ins Auge gefaßt sei, nach dem, so habe sich ein stellvertretender Kulturminister geäußert, niemand mehr auf den Gedanken kommen werde, „noch einmal so anzufangen wie Heym oder Kunze“. Der Prozeß werde jedoch nicht von allen gewollt, und zu denen, die ihn um des internationalen Ansehens der DDR willen vermeiden möchten, gehöre Honecker. Ein an ihn persönlich gerichteter Antrag auf dauerhafte Ausreise werde sofort genehmigt. Ich erhielt diese Information nahezu gleichlautend von zwei Personen, was differierte, war einzig das angepeilte Strafmaß: acht bzw. zwölf Jahre. Daraufhin bat ich um die Genehmigung, mit meiner Familie die DDR verlassen zu dürfen, was umgehend erlaubt wurde.
War es für Sie eine Genugtuung, den späteren SPD-Spitzenpolitiker Ibrahim Manfred Böhme nach der Wende anhand Ihrer Stasi-Akte als Spitzel entlarvt zu haben?
Er hat sich in der Akte selbst entlarvt, und das konnte ich um der Demokratie willen nicht geheim halten. Der Schaden, den er nicht nur in unserem Leben angerichtet hat, war zu groß, um Mitleid aufkommen zu lassen.
Seit Jahrzehnten werden Sie mit den bedeutendsten deutschen und tschechischen Preisen ausgezeichnet. Was bedeuten Ihnen Auszeichnungen?
Freude, daß die Arbeit anerkannt wird.
Sie sind jetzt 84 Jahre alt und bereiten mithilfe Ihrer Stiftung in Ihrem Wohnhaus eine Dokumentationsstätte über einen lebenslangen Kampf mit den Waffen des Schriftstellers um Freiheit und Gerechtigkeit vor, wie eine Zeitung schrieb. Dazu zählen auch Recherchen zu Schicksalen tschechischer Autoren zwischen 1948 und 1990. Wie erging es denen?
Ich wäre dankbar, wenn wir nicht von „Waffen des Schriftstellers“, sondern von „Mitteln des Schriftstellers“ sprechen könnten. Um zu berichten, wie es zwischen 1948 und 1990 den tschechischen Autoren Závis Kalandra, Konstantin Biebl, Ivan Blatný, Jan Zahradníček, Bohuslav Reynek oder Jan Skácel erging, um nur einige wenige Namen zu nennen, müßten wir viele, viele Seiten beschreiben. Der surrealistische Dichter Závis Kalandra schloß sich nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch Hitler-Deutschland einer Widerstandsgruppe an und wurde von der Gestapo verhaftet. Die Befreiung erlebte er im KZ Sachsenhausen. Er kehrte nach Prag zurück. Nach der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei 1948 inszenierten die tschechischen Stalinisten jedoch ähnliche politische Prozesse wie Ende der dreißiger Jahre die Stalinisten in Moskau. Die Prager entsannen sich nicht des Widerstands von Kalandra gegen die deutsche Okkupation, sondern verurteilten ihn wegen angeblicher „antisowjetischer Konspiration“ zum Tode. Albert Einstein, André Breton und Albert Camus setzten sich vergebens für den Dichter ein. Er wurde 1950 hingerichtet. 1991 verlieh ihm der erste demokratisch gewählte tschechoslowakische Präsident nach 1948, Václav Havel, postum den Tomáš-Garrigue Masaryk-Orden 1. Klasse. Biebl stürzte sich aus Angst vor Verhaftung aus dem Fenster zu Tode. Blatný bat in Großbritannien um politisches Asyl, verfiel einem schweren Verfolgungswahn und lebte von 1954 bis zu seinem Tod 1990 in der psychiatrischen Klinik von Ipswich. Zahradníček wurde 1952 wegen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich „Verstreute Generation katholischer Dichter“ nannte, zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, von denen er neun Jahre verbüßte, und verstarb im Jahr seiner Entlassung an den Folgen der Haft. Und so weiter.
Auf die Frage, was bleibe, antworteten Sie kürzlich: Nichts. Bezog sich dies auf Ihr Werk und Wirken – was angesichts seines Umfangs Koketterie wäre?
Da muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich habe das nie gesagt. Meine Haltung dazu können Sie dem folgenden Gedicht aus dem Jahr 2012 entnehmen:
WER BIST DU, DICHTER
Wer bist du, dichter, daß du wähnst,
die welt sei geschaffen
als deiner stimme hallraum?
Zwei saiten hast du in der kehle,
weniger als eine geige
Hast du der welt
an welt hinzugetan?
Und was an welt?
Die antwort ist’s, die einst das urteil
über deiner stimme nachhall fällt
Anm. d. Red.: Auf ausdrücklichem Wunsch von Reiner Kunze ist das Interview nach den vor der Rechtschreibreform von 1996 gebräuchlichen Regeln verfasst. Kunze gehörte zu den Erstunterzeichnern des sogenannten Frankfurter Appells im Jahre 2004, mit dem Schriftsteller, Verleger, Übersetzer, Wissenschaftler und Künstler gegen die neue Rechtschreibung protestierten. 2001 kritisierte er in seiner Denkschrift „Die Aura der Wörter“ die amtliche Rechtschreibung.
Zur Person
Reiner Kunze wurde 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geboren, studierte Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig und arbeitete ab 1962 als freiberuflicher Schriftsteller. Zu seinen bekanntesten Werken zählen das Prosawerk „Die wunderbaren Jahre“ (1976), die frühen Gedichte „sensible wege“ und „zimmerlautstärke“ sowie der Gedichtband „brief mit blauem siegel“ (1973). Seine Stasi-Akte dokumentierte er 1990 unter dem Titel „Deckname Lyrik“. Kunze ist Mitglied in mehreren Akademien, unter anderem im PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland und in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2006 gründete er die Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung, die nach dem Tod des Schriftstellers das Wohn- in ein Ausstellungshaus verwandeln und zeitgeschichtlich relevante Materialien aus dem Nachlass in einer Dauerausstellung zugänglich machen soll.
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