„Nicht alle wollen in der Vorstadt leben“
Michal Illner forscht über seinen eigenen Wohnraum: die Platte. Ein Gespräch darüber, warum es um die tschechischen Plattenbauten besser bestellt ist als um die deutschen
17. 4. 2013 - Interview: Martin Nejezchleba
Václav Havel nannte sie einst „Kaninchenställe“. Michal Illner nennt das eine unglückliche Formulierung. Der Stadtsoziologe forscht an der Akademie der Wissenschaften zu den Themen Wohnraum, Lokal- und Regionalpolitik sowie Siedlungssoziologie. Illner selbst ist der lebende Beweis, dass in Tschechien auch Akademiker in Großraumsiedlungen wohnen. Mit PZ-Redakteur Martin Nejezchleba sprach er über das Leben in der Platte.
Wie viele Tschechen leben denn heute noch in Plattenbausiedlungen?
Illner: Ziemlich viele, überraschenderweise: etwa ein Drittel der tschechischen Bevölkerung. Auch die Zahl der Plattenbauten ist recht hoch. Etwa 18.000 wurden bis 1990 gebaut. Im Moment gibt es etwa 1,2 Millionen Wohnungen in Plattenbauten.
Hat sich denn in den letzten 20 Jahren die Bevölkerungsstruktur solcher Siedlungen gewandelt?
Illner: Der Wandel geschieht langsam, ist aber keineswegs katastrophal. Die Leute aus der reicheren Mittelschicht sind – nie jedoch in großen Massen – in Eigenheime in die Vorstädte gezogen. Diese Abwanderung hat allerdings keinen großen Leerstand verursacht. Den Platz dieser Leute haben Menschen mit geringerem Einkommen eingenommen. Jedoch kam es nicht dazu – was viele befürchtet haben, dass sich in den Plattenbausiedlungen wirklich die Ärmsten der Armen konzentrierten. Es haben sich natürlich auch bei uns problematische Siedlungen herausgebildet, aber das liegt dann eher an regionalen Faktoren. Das sind beispielsweise die großen Siedlungen in West- und Nordböhmen, in die viele sozial Schwache gezogen sind, Roma-Familien etwa.
In Deutschland kam es in den Siedlungen der neuen Bundesländer relativ schnell zu großen Abwanderungsprozessen und zur sozialen Isolierung der verbliebenen Bewohner. Den tschechischen Plattenbauten haben viele das gleiche Schicksal prophezeit. Warum kam es in Deutschland zu dieser negativen Entwicklung und in Tschechien nicht?
Illner: In der Bundesrepublik hängt das mit der Abwanderung in den Westen zusammen. Aus den ostdeutschen Städten sind große Teile der Bevölkerung weggezogen. Die frei gewordenen Wohnungen konnten nicht besetzt werden. Man hat etwa versucht, Gastarbeiter aus Polen in die leerstehenden Plattenbauten zu locken. Das hat nicht funktioniert. Viele der Gebäude wurden abgerissen. Ich habe hier Bilder, da können sie einen Plattenbau sehen, auf dem nächsten eine Explosion und dann einen Park. In Tschechien kam es nur in Einzelfällen zu dieser Entwicklung.
Heißt das, dass die Bewohner der tschechischen Plattenbauten einfach nicht die Möglichkeit hatten, wegzuziehen, weil sie keine alten Bundesländer hatten?
Illner: Das klänge so, als wäre das Wohnen im Plattenbau ein Problem. Klar, wenn alle die Möglichkeit hätten, dann wäre der Abzug in die Vorstädte natürlich viel dramatischer ausgefallen. Aber nicht alle möchten in der Vorstadt leben. Langsam zeigt sich eine Reihe von Nachteilen dieser Wohnform: Isolierung, schlechte Verkehrsanbindung, fehlende Kindergärten etc. Das alternative Wohnmodell in den Vorstädten ist für viele heute gar nicht mehr so verlockend.
Zu einer Stigmatisierung als Problemsiedlungen wie in Westeuropa ist es also nie gekommen?
Illner: Nein. Dieses Problem können wir beispielsweise in Frankreich beobachten. Dort wurden die Großsiedlungen in größerer Entfernung zur Innenstadt gebaut, oftmals sind diese Gebiete durch Freiflächen abgetrennt. Dort wohnen vor allem Einwanderer aus den einstigen Kolonien. Die kulturellen Unterschiede und die hohe Arbeitslosigkeit bergen dort das Problempotential. In Tschechien gibt es dieses Phänomen kaum.
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