Prager Kneipennächte III

Prager Kneipennächte III

Spätinsbettgeher schlagen sich in der tschechischen Hauptstadt seit jeher gerne die Nächte um die Ohren. Dafür finden sie bis heute Lokale in vielen Stadtteilen

4. 9. 2018 - Text: Klaus Hanisch

Prager Kneipennächte (Teil 1)
Prager Kneipennächte (Teil 2)

Freitag Nacht:
Heute macht kein Gast Musik. Auch keine Live-Band. Nicht einmal CDs. Sondern Radio, ausnahmsweise. Gerade „Hey Brother“. Melancholische Stimmung im Raum. Bei jenen, die wissen, dass Musiker Avicii heißt. Schwede. Kürzlich verstorben. Wurde nur 28 Jahre alt.

Gerade vier Schnäpse auf der Theke. Dunkelbraun. Sherry vielleicht. Oder Jägermeister? Gibt grauer Vollbart aus. Drei für Gäste. Einer für Franta, den Theker. Trinken ihn auf einen Zug aus. Könnte auch Stärkeres gewesen sein.

Kein Stuhl mehr frei. Einige stehen sogar. Heute so ziemlich jeder da, der nicht auf Chata ist, seinem Wochenendhaus. Sechs Tische, acht Barhocker. Platz für 35 Gäste. Höchstens 40. Wenn man zusammenrückt. Stühle und Tische sowieso reichlich eng aufgestellt. Weshalb Chef und Gehilfen unbedingt schlank sein müssen, um überhaupt bedienen zu können.

Mann mit dunkler Brille gerade eingetroffen. Anfang fünfzig. Bekannt dafür, an fast jeder Tisch- und Thekenecke anzustoßen. Stammgäste vermuteten lange, dass er blind sei. Worauf dunkle Brillengläser hindeuten. Stellte sich aber heraus, dass er wahnsinnig viel trinkt. Und deshalb so oft aneckt.

Jeder Gast mit persönlichem Trinkrhythmus. Wird mehr oder weniger bewusst eingehalten. Ein Bierkrug pro Stunde. Bei manchem auch zwei. Oder mehr. Je nach Gesundheitszustand. Tschechen glauben, dass Bier vorbeugt. Zumindest einige von ihnen. Soll basischer sein als andere Getränke. Biete damit Schutz vor Übersäuerung im Menschen. Allerdings nur Pilsner. Und noch eine Marke. Welche? Ist heftig umstritten. Únětický käme hier gerade recht. Auch wenn nicht viele Gäste Eindruck erwecken, sich um ihre Gesundheit zu sorgen.

Vermeintlich Blinder mit drei bis vier Krügen pro Zeigerumdrehung. Je nachdem, ob schon betrunken, wenn er in Kneipe kommt. Und wie viel Schnaps er dazu bestellt. Beginnt stets mit hoher Trinkfrequenz. Senkt nach Mitternacht allmählich Rhythmus. Erhöht ihn nach zwei Uhr wieder.

Für Theker schwieriger Gast. Wird von Besuchern manchmal beschimpft, weil er so oft anstößt. Vor allem, wenn Bierkrüge umzukippen drohen. Ist daher lästig. Andererseits kann Theker gerade diesem Stereo-Trinker viel verkaufen. Und Geschäft ist Geschäft. Besonders in Nachtkneipen.

Gegen elf am Abend. Zwei ältere Frauen seit kurzem an Tisch in der Mitte. Eine in dunkelblauem Kostüm. Andere mit weißer Bluse und rotem Rosenmuster. Unechte Goldkette mit Glasperlen um Hals. Nährt Verdacht, dass sie zuvor in Vorstellung im örtlichen Theater waren. Nicht weit von Kneipe entfernt. Schauen immer wieder fassungslos über fassungsfreie Gläser ihrer Brillen.

Vor allem auf jüngere Frau am größten Tisch. Grob geschätzt Mitte 20. Stämmig. Heftig tätowiert. An beiden Armen. Dazu Dekolleté. Sowie Nacken unter pechschwarzen Haaren. Ob noch mehr verdeckt weißes ärmelloses Kleid.

Am Tisch neben ihr ältere Frau. Bereits volltrunken. Braucht zur Toilette länger als der Blinde. Rempelt auf Weg dorthin Gast an. Bringt trotzdem noch höfliches „pardon“ hervor. Oft von Tschechen zu hören. Selbst wenn sie nicht schuld sind. Schafft es kaum noch zurück. Tätowierte rückt näher an sie ran. Fragt, ob sie helfen kann.

Kneipe ist Trinkerhochburg und Kommunikationszentrum. In frühen Stunden zuweilen auch Sozialstation. Volltrunkene wehrt heftig ab. Unsinn. Sei schließlich nicht betrunken. Sagt sie. Gibt Franta jedoch Anlass, heimlich auf die Uhr zu schauen. Ob er vielleicht bald schließen sollte.

Wenn die meisten Prager zur Arbeit gehen, sitzen andere noch in der Kneipe.

Theaterfreundinnen immer lebhafter. Angeregte Diskussionen. Musik zu laut, um zu verstehen: Geht es um Hamlet? Oder um Kochrezepte für den anbrechenden Tag?

Kurz nach eins. Für Franta zunehmend schwieriger, Nachbestellungen auf die Reihe zu bringen. Neues Únětický für Tisch links. 12 Grad? Oder 10 Grad? Schnäpse vor Mitternacht heute nicht seine einzigen. Trinkt gerne mit, wenn man ihn einlädt. Wird oft eingeladen. Sympathischer Typ. Verbindlich im Ton. Energisch, wenn er Ordnung im Lokal bedroht sieht. Schnäpse für Umsatz förderlich. Seine Zettelwirtschaft neben Spüle ist nun jedoch ernsthaft in Gefahr.

Halb zwei. Plötzlich Panik. Jüngere Frau, dunkelgrünes T-Shirt, kurze schwarze Hose. Sucht verzweifelt Tasche. Halbes Lokal kriecht unter Tische. Bis jemand Jacke vom Stuhl entfernt. Darunter kleine schwarze Tasche. Junge Frau atmet auf. Halbes Lokal freut sich mit.

Geht kurz darauf. Macht an Tür schnell noch Foto. Von Tätowierter hinten im Raum. Auch grauer Vollbart verlässt Theke. Wirft Tätowierter zuvor Kusshand zu. Geschmäcker sind verschieden.

Franta. Spielt mittlerweile Memory mit Zetteln. Welcher zu welchem Tisch? Kurz nach zwei. „Wake Me Up“ im Radio. Wieder Avicii. Passend zur Uhrzeit. Nicht aber in diesen Raum. Noch immer viel Stimmengewirr. Und keine Trauer mehr, wegen des Schweden. Stattdessen gelassene Versunkenheit. So ist eben Leben.

Theaterbesucherinnen wanken nach Hause. Arm in Arm. Vor der Tür mit beachtlichem Ausschlag nach beiden Seiten. Nutzen manchmal gesamte Breite des Gehsteigs. Schrammen dabei nur knapp an Hauskanten vorbei. Ließen sich zuvor Plastikflasche mit Únětický füllen. 12 Grad. Bis zum Rand. Rosenbluse hält Teil fest in ringbewehrten Händen. Legen auf Straße öfter kurzen Stopp ein. Nehmen dann tiefen Schluck aus der Flasche.

Haben sicher mitgekriegt, dass alles gesund sein soll, was bitter schmeckt. Falls ja, kann man nicht genug Únětický trinken. Zumal, wenn’s auch noch basisch ist …

Nachtkneipe in der Prager Innenstadt

Samstag Nacht:
Drei viertel zwei am Morgen. Lage in Kneipe droht zu eskalieren. Genau jetzt, da sich Jindřich Zigarette in Mund steckt. „Ach nein“, bittet Franta, „tu’s nicht.“ „Warum nicht?“, fragt Jindřich provozierend. Blickt Theker tief in die Augen: „Ja, warum denn eigentlich nicht …?“ „Wir haben nun das Gesetz“, wehrt Franta ab, „und jetzt müssen wir uns daran halten. Ob’s richtig ist oder nicht.“ „Ein Scheißdreck ist’s“, legt Jindřich nach, „und das weißt du. Seit zehn Jahren rauche ich hier. Deshalb komme ich überhaupt zu dir.“ „Aber es ist Gesetz“, entgegnet Franta. „Außerdem kommst du zum Trinken hierher und nicht zum Rauchen.“

Jindřich verzieht Gesicht. Behält kalte Zigarette im Mundwinkel. „Aber wir sind doch unter uns“, fügt er leise an, „quasi …“ Guckt mit schräg zur Seite geneigtem Kopf nach links und rechts.

Schmaler länglicher Raum, der Kneipe bildet, zu dieser Stunde immer noch halb gefüllt. Etwa 20 Gäste. Unter ihnen keiner, den Raucher stören. Denkt offenbar Jindřich. Zieht nämlich kleines grünes Feuerzeug aus Jackentasche. „Lass doch“, bettelt Theker. Faltet Hände. Schüttelt sie Richtung Jindřich. „Du weißt, dass ich dich sonst rauswerfen muss.“

Zwei Raucher. Kommen aus dunkler Nacht durch schmale Holztür zurück in überhitzte Kneipe. Blicken auf Jindřich gleich vorne am Eingang. Mit kalter Zigarette im Mund. „Recht hat er“, sagt einer, „was müssen wir für einen Glimmstängel auch immer raus …“

„Tja“, antwortet anderer. Tonfall verrät, dass er Rauchpartner zustimmt. Im Prinzip jedenfalls. Ist zudem Hundehalter. Unterbricht oft nächtliche Gassi-Runde in Kneipe. Auf ein Bier. Oder mehrere. Tierquälerei. Fanden Theaterfreundinnen. Kommen deshalb seinetwegen nicht mehr samstags. Was Blödsinn ist. Gibt noch andere Gäste mit Vierbeinern. Kommen sogar gezielt in Kneipe. Fast jeden Tag. Mindestens einer von ihnen.

Seit Mai 2017 stehen Raucher in Tschechien öfter vor der Kneipe.

Hunde schlafen oft unter Tisch ein. Nicht jedoch Boris. Hund von Raucher. Braun-weißer Mischling. Rasse schwer zu definieren. Wahrscheinlich irgendwas von Schnauzer. Hat zumindest dessen Größe. Gesicht allmählich grau. Extrem aufmerksam. Wechselt ständig Blick nach allen Seiten. Selbst jetzt, nach zwei Uhr morgens. Zieht von Stuhl zu Stuhl. Gibt Pfötchen. Macht Männchen. Schmust zur Not, wenn irgendwo was zu holen ist.

Everybodys Darling. Liebt selbst nur die, die teilen können. Versteht anscheinend jede Sprache. Reagiert auf Deutsch, auf Tschechisch, auf Englisch. Hauptsache, ein Bissen für ihn. Verharrt dort länger, wo Utopenec gegessen wird. Weiß, dass in Kneipen wie hier besten der ganzen Stadt gibt.

Eingelegt in riesigem Konservenglas. Mit besonders vielen Zwiebeln und rotem Paprika. Im Kühlschrank gelagert. So verbindet sich Wurst optimal mit essigsaurer Lake. Besteht aus Gewürzgurken, Wacholder- und Lorbeerblättern. Sowie Chili. Wahrscheinlich auch Senfkörnern. Wird damit Namen gerecht. Wahrer „Ertrunkener“.

Kostet hier gerade mal 32 Kronen. Einschließlich herrlichem tschechischen Brot. Weckt Lust auf nächsten Krug. Wirft alte Frage auf: Macht Bier dick? Oder Essen, auf das Bier Appetit macht? Gibt auch eingelegten Hermelín. 59 Kronen. Lehnt Boris aber kategorisch ab. Nachos (65 Kronen) sowieso.

Kneipe riecht nach Essig. Wenn jemand Utopenec gegessen hat. Riecht auch sonst. Immer nach irgendwas. Abgestandener Zigarettenrauch. Bierschaum. Schweiß. Körperausdunstungen. Manchmal nach allem zusammen.

Tschechischer Klassiker: Utopenec  | © RKolarsky, CC BY-SA 3.0

Nach halb drei am Morgen. Jindřich. Spielt mit grünem Feuerzeug. Zwischen gelben rauchigen Fingern. Wirkt unentschlossen. Soll er nicht doch …

„Du weißt, dass ich die Kneipenlizenz verlieren kann“, nimmt Theker Zweikampf neu auf. „Also keinen Ärger! Bitte.“ „Merkt doch kein Mensch“, hält Jindřich dagegen. Schaut sich noch einmal in Kneipe um. Sicherheitshalber.

Wechselt dann auf Stuhl am anderen Ende der Theke. Neben Bild von Havel. Darunter Wandkalender. Werbegeschenk vom vierten Prager Stadtbezirk. Oktober hat darauf nur 30 Tage. Bestätigt eindrucksvoll, dass Verwaltungen nicht mehr arbeiten als nötig. Aber gerne weniger.

Knappe Viertelstunde später. Einer läuft zur Theke, stützt sich dort mit linker Hand ab. Steht so, als ob Hose voll hätte. Beichtet Franta, dass er kein Geld dabei hat. Jetzt erst bemerkt, leider. Stoppelbart. Fettige Haare. Blaue Turnhose. Graues T-Shirt, nicht frei von Fleck. Klassische tschechische Freizeitbekleidung.

Osteuropäische Erscheinung. Würde dagegen deutscher Polizeibericht schreiben. „Jetzt haben wir ein Problem“, erwidert Theker schmallippig. Vergisst darüber, dass er schon längst eines mit Jindřich hat. Gäste am Morgen öfter zu kraftlos, um Rechnung zu zahlen. Bitten dann Nachbar, Münzen aus ihrem Geldbeutel zu fischen. Ganz ohne Geld jedoch große Ausnahme.

Stoppelbart greift zu Telefon. Hatte viele „Pivos“. Auch viel Slivovice. Wen kann er jetzt noch erreichen? Fragt sich Theker. Schon nach drei. Dazu einen, der Geld in Kneipe bringt? Theker ist sich einig: Ausgeschlossen!

Sieht anscheinend auch Bartträger so. Legt Handy ab. Guckt sich um. Steuert auf nächsten Tisch zu. Sieht mich mit treuherzigen Augen an. Mache ihm klar, dass ich Deutscher bin. Könne ihn nicht verstehen. „No!“, antwortet er. Heißt so viel wie: „Wunderbar. Dann gib Geld! Deutsche sind doch alle reich.“

Hat durchdringende Stimme. Wie Franta. Könnte Bruder sein. Hat aber volles schwarzes Haar. Theker dagegen Glatze. Theker rätselt: Ist das genetisch möglich? Gast an Theke hat seit kurzem Schnappatmung. Kopf fällt nach hinten. Mund steht offen beim Schnarchen. Nur noch Frage der Zeit, wann er von Hocker kippt. Franta nähert sich. Fragt mit sanfter Stimme, ob er nicht allmählich nach Hause wolle. Solle nicht so viel reden. Ruft Schnapper. Sondern lieber Bier auftragen. Dazu einen Schnaps.

Jindřich nimmt Zigarette aus Mund. Unklar, ob aus Mitleid mit Theker. Oder weil nicht mutig genug ist. Verlässt Kneipe etwa gegen 3.30 Uhr. „Aber morgen rauche ich hier“, wirft er Franta nach. „Und nicht nur eine Zigarette. Scheiß Gesetz.“

Dreht sich an Tür noch einmal um. „Morgen bringe ich keine Zigaretten mit …“ Setzt satanisches Grinsen auf. „… sondern gleich eine Zigarre. Und zwar eine extra lange …“ Verlierer sind nicht gerne Verlierer. Nicht einmal in tiefster Nacht.

Etwa zehn Minuten vor vier. Allmählich Auflösungserscheinungen in Kneipe. Gäste zwischen Sitzen und Gehen. Heilloses Durcheinander. Vor Tür. Im schmalen Eingang. Im Raum selbst. Rund um Toilette.

Kurz nach vier Uhr. Noch zwei Schläfer an zwei Tischen. Und Jindřich. Lehnt plötzlich wieder an Theke. Ganz lässig. Hat sich unbemerkt zurückgeschlichen. Gegen den Strom der Heimkehrer. Raucht gemütlich Zigarette.

Franta kapituliert. Unterhält sich mit ihm über örtlichen Fußball-Klub. Sechste tschechische Liga. Hat am Sonntag Heimspiel. Könnte diese Saison was werden mit dem Meistertitel. Ob man sich dort sieht? In wenigen Stunden. Franta überlegt noch. Jindřich geht sicher hin. Auf dem Sportgelände könne er schließlich rauchen. Jindřich lächelt Franta an. Denn dort gelte es ja nicht, dieses Scheiß-Gesetz.


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