Gewinnerin in der Niederlage
Tennis

Gewinnerin in der Niederlage

Ein verlorenes Match gegen eine Deutsche machte sie weltberühmt. Im November letzten Jahres verstarb Jana Novotná. Am 2. Oktober wäre die Tennisspielerin 50 Jahre alt geworden

30. 9. 2018 - Text: Klaus Hanisch

Manchmal werden Sportler zu Legenden, obwohl sie nicht gewinnen konnten. Genauer gesagt: gerade deshalb. Wie Raymond Poulidor, der zigfach vergeblich versuchte, die Tour de France als Erster zu beenden. Trotzdem wurde „Popou“, der ewige Zweite, in seiner französischen Heimat populärer als sein Rivale Jacques Anquetil, der fünfmalige Träger des Gelben Trikots. Oder wie die niederländische Nationalelf, die 1974 einen Fußball spielte, der die Welt verzückte. Trotzdem unterlag sie im WM-Finale dem glanzlos spielenden Gastgeber Deutschland mit 1:2.

Für die Tschechische Republik ist Jana Novotná dieses Beispiel. Dafür sorgte ein einziges Match. Es wurde am 3. Juli 1993 gespielt und war das Finale beim wichtigsten Tennis-Turnier der Welt. In Wimbledon stand Novotná ihrer deutschen Konkurrentin Steffi Graf gegenüber, die das Damen-Tennis jener Jahre beherrschte und auf dem „heiligen Rasen“ zuvor schon vier Mal gewonnen hatte.

Doch nicht sie dominierte dieses Endspiel wie so oft, sondern die Tschechin. Novotná lag bereits mit 6:7, 6:1 und 4:1 im dritten und entscheidenden Satz in Führung. Eigentlich nicht mehr einzuholen, dachten Zuschauer und Millionen vor den Fernsehschirmen. Zumal sie auch noch Aufschlag hatte, mit 40:30 führte und damit einen Spielball zum 5:1 verwandeln konnte. So fehlten ihr nur noch fünf lächerliche Punkte zum Wimbledon-Sieg.

Doch dann versagten ihre Nerven. Unerklärlicherweise und nicht zum ersten Mal, nun aber wie niemals zuvor. Die Brünnerin schlug einfache Bälle ins Aus, machte Doppelfehler. Graf holte auf, Punkt für Punkt, während Novotná immer mehr in Panik geriet. Die Deutsche gab kein Spiel mehr ab, gewann den letzten Satz mit 6:4 und damit den Titel.

Bei der Siegerehrung klappte Jana Novotná vollends zusammen. Sie brach in Tränen aus, lehnte sich an die Schulter der Herzogin von Kent, wurde von ihr umarmt und getröstet, konnte nicht mehr aufhören zu weinen. „Daran haben sich die meisten Leute mehr erinnert als an meine Niederlage“, sagte sie Jahre später.

Tatsächlich erlebte Novotná in diesen Minuten den größten Sieg ihrer Karriere. Zwar war sie nur noch ein Häuflein Elend. Zugleich aber auch ein lebendes Beispiel dafür, dass eine Tennisspielerin kein Roboter ist, der Bälle wie fremdgesteuert über ein gespanntes Netz drischt. Emotionsfrei, automatisch – wie Steffi Graf. Sondern ein Mensch, der seinen Gefühlen freien Lauf ließ, nachdem er einen kompletten Spannungsbogen erlebt und durchlitten hatte: anfängliche Hoffnung, wachsende Siegeszuversicht, aufkeimende Angst, bittere Enttäuschung, völlige Frustration. Die Hochleistungssportlerin wurde plötzlich zu einem Menschen wie du und ich. Dies berührte mehr als all ihre sportlichen Erfolge. Nicht nur Fans weinten mit.

Dabei wirkte Jana Novotná auf dem Court durchaus nicht zerbrechlich, sondern athletisch, kämpferisch – robust. Vorzüge, mit denen sie bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 1999 insgesamt 100 Turniere gewann, 24 im Einzel – und 76 im Doppel. Novotná lief besonders zu Hochform auf, wenn sie nicht die volle Last der Verantwortung tragen musste, sondern nervliche Strapazen auf mehreren Schultern verteilt waren. Deshalb holte sie zweimal Silber bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul und 1996 in Atlanta, jeweils mit ihrer Landsfrau Helena Suková. „Bei mir haben manchmal die Emotionen zu sehr mitgespielt und dazu beigetragen, dass ich gescheitert bin“, blickte sie selbstkritisch zurück.

Im Team wurde sie 1988 auch Fed-Cup-Siegerin. Dieser Triumph war Ausdruck für die Stärke des tschechoslowakischen Tennis in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Geprägt durch Namen wie Martina Navrátilová, Hana Mandlíková, Ivan Lendl oder Tomáš Šmíd und Petr Korda. Und Jana Novotná.

Die vermeintlich spröde Blondine mit dem Stirnband steckte die Wimbledon-Niederlage von 1993 weg, was angesichts des Tränen-Dramas nicht unbedingt zu erwarten war, wegen ihres großen Talents und ihrer brillanten Technik aber auch nicht überraschte. Novotná bevorzugte Angriffstennis, klassisches Serve-and-Volley-Spiel, stürmische Netzattacken. Das verlorene Finale habe sie zu einer besseren Spielerin gemacht, und sogar „zu einem besseren Menschen“, erklärte sie einmal der BBC.

Zwei Jahre später, 1995, wurde Novotná zur Nummer eins im Doppel, Ende September 1997 kletterte sie in der Weltrangliste auf Platz 2 im Einzel. Im Jahr 2005 wurde sie in die Hall of Fame des Tennissports aufgenommen. In 14 Profi-Jahren verdiente Novotná angeblich mehr als elf Millionen US-Dollar an Preisgeldern.

Ende 1997 besiegte Novotná die Französin Mary Pierce im Finale der WTA Tour Championships in New York.  | © WTA

24 Jahre alt war Jana Novotná, als sie 1993 in Wimbledon verlor. Erst 49, als sie ihren Lebenskampf aufgeben musste, im November letzten Jahres wegen eines Krebsleidens. „Jana war auf dem Platz und außerhalb eine Inspiration für alle, die die Chance hatten, sie kennenzulernen“, schrieb damals Steve Simon, Chef des Weltverbandes WTA. „Es ist so traurig, von ihrem Tod zu hören. Sie war ein Champion der Herzen“, merkte Boris Becker an. „Ich bin tief schockiert, ich werde dich vermissen“, twitterte ihre frühere Kollegin Barbara Rittner und nannte Novotná „eine wundervolle Person, ein Vorbild.“

Besonders ihre Landsleute gedachten einer großen Sportlerin. „Der tschechische Sport hat eine bedeutende Persönlichkeit verloren“, hob Ministerpräsident Bohuslav Sobotka hervor. „Jana war eine wahre Freundin und eine tolle Frau“, notierte Martina Navrátilová. „Sie wird für mich immer ein Champion bleiben“, erklärte Karolína Plíšková.

Jana Novotná wurde in ihren letzten Lebensjahren in dem 800-Seelen-Dorf Omice unweit von Brünn heimisch. Auf ihrer Habenseite stehen stolze 17 Grand-Slam-Titel: zwölf im Doppel, vier im Mixed und einer im Einzel – 1998 und endlich in Wimbledon. „Ich bin sicher, eines Tages werden Sie hier siegen“, hatte die Herzogin von Kent im Juli 1993 der anscheinend untröstlichen Novotná ins Ohr geflüstert. „Ein Traum ist wahr geworden“, schwärmte die Tschechin in der Stunde des Triumphes. Doch unsterblich machte Jana Novotná eine Niederlage dort – vor genau 25 Jahren gegen Steffi Graf.