Flucht in die Märchenwelt
In Deutschland haben die Gebrüder Grimm das Volksmärchen nachhaltig geprägt. In Tschechien war es vor allem Božena Němcová, die den Schatz der Märchen und Dorfgeschichten bewahrt hat
18. 4. 2013 - Text: Linda LorenzText: Linda Lorenz; Foto: DEFA
Böhmen und Mähren im Jahr 1843. Das industrielle Zeitalter ist angebrochen, immer mehr Fabriken entstehen, Eisenbahnen dampfen auf den ersten Langstrecken von Wien nach Brünn. Doch nicht überall hat der Fortschritt Einzug gehalten. Nach den Karlsbader Beschlüssen leiden Journalisten und Schriftsteller unter einer strengen Zensur, große Bevölkerungsteile leben in bitterer Armut.
In dieser Zeit des Wandels beginnt Božena Němcová ihre ersten Gedichte zu schreiben. Zwei Jahrhunderte später soll sie neben den Gebrüdern Grimm zu den Galionsfiguren der europäischen Märchensammler gehören. Doch davon ahnt sie noch nichts, als sie 23-jährig ihre erste Lyrik in einer Zeitschrift namens „Květy“ veröffentlicht sieht.
Geboren 1820 in Wien als Barbara Betty Novotná (nach der Heirat ihrer Eltern erhielt sie den Pankel), ist sie die älteste von zwölf Geschwistern. Als sie 17 Jahre alt wird, rät ihr die Mutter zu heiraten. Der Ehemann Josef Němec ist zwanzig Jahre älter, Beamter mit sicherem Einkommen und, entgegen dem Geist der Monarchie, tschechischer Patriot. Němcová bekommt in fünf Jahren vier Kinder, kocht und putzt – Freiheit hat sich die neugierige und tatkräftige Frau anders vorgestellt. So sucht sie stets nach einem Ideal, an dem sie sich festhalten kann.
1842 kam die große Wende: Der Ehemann wird nach Prag versetzt. Im intellektuellen Großstadtflair verfällt auch Božena Němcová dem Patriotismus. „Dass Němcová auf Tschechisch schrieb, war bereits ein klares Bekenntnis zur Nationalbewegung“, so Lubomír Sůva, Lektor für die tschechische Sprache an der Georg-August-Universität Göttingen. Frauen in der Politik und Literatur waren für ihre Zeit sehr ungewöhnlich. In Prag knüpft Němcová Kontakte zu Gönnern und Schriftstellern. Freunde entdecken schließlich ihr erzählerisches Talent und raten ihr, die Geschichten, die sie ihren Kindern erzählt, niederzuschreiben – darunter ihr Freund, der tschechische Märchensammler Karel Jaromír Erben. Němcová lässt sich überreden: Zwischen 1845 und 1847 erscheinen in mehreren Heften ihre ersten „Volksmärchen und Sagen“.
Grausame Unterhaltung
Während die Gebrüder Grimm als Romantiker galten, balancierte Němcová zwischen Romantik und Realismus. Ihr Oeuvre wird heute als Realidealismus bezeichnet: Die Autorin sammelte erzähltes Volksgut und schrieb es noch einmal in ihrer eigenen Fassung auf. Dabei nahm sie es mit der Wahrheit nicht allzu genau. In einem Brief an ihre Freundin Bohuslava Čelakovská schrieb sie 1845: „Ich habe die Märchen aufgeschrieben, wie das Volk sie erzählt, ein paar dumme Überflüssigkeiten muss man freilich weglassen.“
In Prag soll Familie Němec nicht lange bleiben. Der Ehemann lässt sich immer wieder an neue Orte versetzen, in der Hoffnung auf ein höheres Gehalt. In tschechischen und slowakischen Dörfern spricht Němcová mit dem einfachen Volk: mit Holzfällern, Ammen, Mägden. Schnell verschwimmen ihre Märchen zu Dorfgeschichten – anders als bei den Gebrüdern Grimm, die den Stoff ihrer Märchen ausschließlich aus literarischem Material bezogen.
Obwohl die Grimms und Němcová zur gleichen Zeit gewirkt haben, „gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie sich jemals getroffen, geschweige denn direkt beeinflusst hätten“, sagt Němcová-Experte Sůva. Dennoch sind sich die Inhalte einiger Märchen ähnlich, zum Beispiel Němcovás „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und Grimms „Aschenputtel“. Auch in Sachen Grausamkeit stehen sich die Märchen in nichts nach. Im Grimmschen „Hänsel und Gretel“ stirbt die Hexe einen qualvollen Feuertod. In Němcovás „Das Goldene Spinnrad“ wird das Mädchen Dobrunka von ihren Schwestern in Einzelteile zerlegt.
Lubomír Sůva schreibt seit 2008 an seiner Dissertation zur „Vergleichsanalyse tschechischer und deutscher Märchen der Romantik“. Seiner Ansicht nach setzten die Autoren jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Während die Gebrüder Grimm das Mythische in ihren Märchen betonten, unterhielt Němcová die Leserschaft mit dem Los der schmerzhaften Liebe. Zudem „wollten die Grimms die alten Denkmäler der deutschen Poesie retten und ein Unterhaltungs- und Erziehungsbuch für Familien schaffen.“ Němcová hegte ähnliche Absichten. „Mit einigen Märchen wollte sie das tschechische Leben auf dem Lande mit den typischen Bräuchen und Charakteren zum Thema der Literatur machen“, so Sůva.
Gefährliche Feindschaften
Božena Němcová hat ihr Ziel erreicht. Sie konnte sich durch die Literatur und innerhalb der Nationalbewegung ihre eigene Freiheit schaffen, wobei ihr das auch zunehmend Feindseligkeiten einbrachte. In den 1850er Jahren wird sie von der Mittelschicht ausgegrenzt, muss Schmähungen ertragen, bis ihr auch Freundin Bohuslava Čelakovská den Rücken zukehrt. Ihr Mann wird aufgrund patriotischer Äußerungen politisch verfolgt. Bald geht Josef Němec nach Ungarn, um eine neue Anstellung anzunehmen. Als der älteste Sohn stirbt, kehrt Němcová nach Prag zurück. Sie wird einsam. Die Ehe wird immer komplizierter. Aus bösen Worten werden Schläge.
Auch in ihren Liebhabern findet Němcová keine intellektuelle Tiefe, da es jene nur auf ihre äußere Schönheit absehen. Sie leidet. Leidet noch mehr, nachdem ihr Mann vom Dienst suspendiert wird. Er findet keine Arbeit mehr, geht in den vorzeitigen Ruhestand. Die Familie muss nun jeden Gulden zweimal umdrehen. Němcová kümmert sich um pubertierende Söhne, einen immer jähzorniger werdenden Ehemann und beschafft ihm immerfort kleine Nebenbeschäftigungen. Letztendlich flieht sie vor ihm. Danach erkrankt Němcová an Krebs, wird schwächer, kann nicht mehr schreiben.
In einem ihrer letzten Briefe an Freundin Katarína Petrovičová schreibt sie: „Ich liege wieder – ich konnte mich nicht schonen, musste im Haushalt helfen und war sehr schwach.“ Im Jahr 1862 stirbt sie völlig erschöpft im Alter von 42 Jahren in Prag.
Nach ihrem Tod wurde die selbstbewusste Božena Němcová zu einer Ikone der tschechischen Frauenbewegung. Auch den Kommunisten kam Němcová und besonders deren Märchen sehr entgegen, schließlich handelten diese oft von einer Unterschicht, die am Ende als überlegene Klasse erscheint – eine ähnlich hohe Bedeutung hatten die Grimmschen Märchen in der DDR.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?