Die Wut des zwölften Mannes

Die Wut  des zwölften Mannes

Der Krösus Sparta gegen den ewigen Zweiten Slavia. Ein Samstag, eine Stadt und ein Fußball-Derby, das den Fans heilig ist und von Rassismus überschattet wird. Ein Live-Ticker von Martin Nejezchleba

18. 4. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba

 

Wenzelsplatz, 2 Stunden und 45 Minuten vor Anpfiff.
Ausnahmezustand. Über der Innenstadt knattert ein Hubschrauber. Die Metro-Station unterhalb des Nationalmuseums spuckt mehr als tausend grölende Fans in rot-weißen Trikots aus. Ihr Ziel: Der Letná-Hügel, Heimstätte des Erzrivalen AC Sparta Praha. Dem wünschen sie nichts Geringeres als den Tod. „Smrt Spartě“, schreien die Fans des SK Slavia Praha aus heiseren Kehlen. Immer wieder hallen dumpfe Explosionen von Knallkörpern auf die Häuserfassaden. Passanten ziehen erschrocken die Köpfe ein. Der Rotorschlag des Polizeihelikopters und mehrere Hundertschaften eines Sondereinsatzkommandos begleiten die „Geflickten“, wie sich die Slavia-Fans wegen der zweifarbigen Trikots ihrer Mannschaft nennen, auf ihrem Samstagsspaziergang. „Die Märsche haben Tradition“, sagt Štěpán Výborný. Durch seine Sonnenbrille beobachtet der Jurist von der Masaryk-Universität Brünn den Pulk aus sicherer Entfernung. Výborný ist Experte für Rechtsextremismus und verfolgt das Geschehen in und außerhalb der Stadien. Leider gibt es dafür gute Gründe.

Altstädter Ring, 2 Stunden und 15 Minuten vor Anpfiff.
„Was ist das?“, fragt ein Tourist. Rauchbombe. Beißende Nebelschwaden steigen auf. Die Rot-Weißen haben sich unterhalb des Altstädter Rathauses versammelt. „Aha! Fußballderby“, gibt sich der junge Mann mit russischem Akzent verständnisvoll. „Ist das gefährlich?“ Er nimmt seine Begleiterin an die Hand. Sie blickt besorgt auf kahl­rasierte Köpfe unter rot-weiß-schwarzen Fahnen. Was die „Tribüne Nord“, die angeblich mehr als 2.500 Leute zählende Ultra-Gruppierung von Slavia, jetzt auf dem Altstädter Ring tut, ist fester Bestandteil der Ultra-Kultur.
Eine Choreographie steht an. Sie recken Papiere mit dem Vereinslogo gen blauen Himmel. Rote Sterne auf weißem Papier flattern im Wind, ein Transparent mit der Aufschrift „Sternenmarsch“ in ihrer Mitte. Auf dem Rathausturm macht ein Fotoapparat Klack Klack.

Čechův most, 1 Stunde und 50 Minuten vor Anpfiff.
Hier gilt es Stärke zu zeigen. Die Brücke führt direkt auf die Sparta-Festung zu. Vom steinernen Sockel, auf dem einst hoch über der Moldau die größte Stalin-Statue stand, blickt eine Handvoll Anhänger der Dunkelroten auf das Geschehen im Tal. Eine größere Ansammlung von Sparta-Fans wusste die Polizei hier zu verhindern. Die Brücke lodert in grau, schwarz, grün und rot. Lukaš Vala ist der Draht zwischen Fans und Polizei. „Strašák“, zu Deutsch Vogelscheuche, ist sein Spitzname. Im Stadion gibt er seinen Ultras den Takt vor, auf den Straßen ist er der Ansprechpartner für die Ordnungshüter.

Letná-Park, 1 Stunde und 35 Minuten vor Anpfiff.
Rituelles Wasserlassen. Die „Toaletná“, wie die „Geflickten“ das feindliche Revier gern nennen, wird markiert. Polizisten auf schnaubenden Pferden sehen zu. Das Sondereinsatzkommando formt einen Schutzwall um die Slavia-Fans. Hier, auf offenem Gelände, ist das Konfliktpotential am größten. Das Sparta-Stadion ist in Sicht.
„Vergangenes Jahr“, so der Beobachter Výborný, „haben sie die Meute direkt über den Park zum Stadion geleitet.“ Damals flogen Steine. Heute werden die Slavia-Fans in gebührendem Abstand zu ihren Rivalen zum Gästeeingang geleitet. Statt Steinen fliegen rassistische Parolen. Vor den Kneipen im Viertel stehen bärtige Familienväter mit Bier in der Hand und grölen das, was man eben so grölt, wenn der Erzfeind Slavia in der Nähe ist: „Jude Slavie“. Beim Traditionsverein aus dem Stadtteil Vršovice trägt man einen roten Stern auf der Brust. Zwar keinen Davidstern, aber wen interessiert das schon? Zumindest die gewaltbereiten rechtsextremen Hooligans von Slavia treibt das zur Weißglut. Alle anderen schütteln darüber den Kopf. Die jüdische Gemeinde kritisiert die Sparta-Führung für die Ausrufe ihrer Fans. Der Club gibt sich machtlos, die Fans behaupten, es werde „Anti Slavie“ skandiert.

Letná-Stadion, Eingang 5, 45 Minuten vor Anpfiff.
Die meisten der knapp 1.500 Ticketbesitzer für den Gästeblock haben es bereits durch die Kontrollen geschafft. Draußen stärken sich einige mit den letzten Schlücken Alkohol. Drei Rot-Weiße haben blutige Ellbogen. Ihnen gefiel die Umleitung weit weg von ihren Erzfeinden nicht. Sie wollten ausreißen. Berittene Polizisten wiesen sie in die Schranken. Drinnen im Stadion sorgen Security-Angestellte mit orangen Westen für Ordnung. Oder sollten das zumindest. Halbherzig wird am Eingang nach Flaschen, Waffen und bengalischen Feuern durchsucht.

Letná-Stadion, Gästeblock, 5 Minuten vor Anpfiff.
Der Stadionsprecher gibt die Aufstellung der Gastgeber durch. Im Sektor H86 sind die Nachnamen nicht zu hören. Für die Slavia-Fans heißen sie alle gleich: „Wixer“. An den Seitenlinien rennen Fahnenträger auf und ab. Blau, Gelb, Rot. Einer schwenkt seine Flagge genüsslich vor dem Gästeblock. Ausbaden müssen das die nächstbesten Zuschauer, die nicht in Rot-Weiß gekleidet sind. Alkoholfreies Bier fliegt in Plastikbechern in hohem Bogen. Die Stimmung kocht. 19.410 Zuschauer. Mehr geht nicht in der Generali-Arena. Der Himmel färbt sich dunkelblau und rot. Der Hubschrauber knattert immer noch.

Anpfiff.
Im Gästesektor sitzt keiner mehr. Vogelscheuche Vala klettert auf die Absperrung. Alles tanzt und springt nach seiner Pfeife. „Wir sind Slavia, ihr seid nichts!“ Ohrenbetäubender Lärm.

10. Spielminute.
Eine Wertung für die beste Choreographie hätte Sparta wohl gewonnen. Die Osttribüne färbt sich in den Vereinsfarben, in der Mitte ist eine riesige 12 zu sehen. „Der 12. Mann“, so nennen sich die Ul­tras der Heimmannschaft. Slavia kann nur mit roten und weißen Luftballons aufwarten. Und bengalischem Feuer. Ding dong. Ein Freundlicher Hinweis des Stadionsprechers an die Slavia-Fans: Pyrotechnik ist verboten.

11. Spielminute.
Ding dong. Noch ein freundlicher Hinweis. Diesmal brennt der Sparta-Block.

15. Spielminute.
„Lalalalala. Slavie gól.“ Der Slavia-Block übt den Schulterschluss und hüpft von links nach rechts. Bei Sparta am anderen Ende des Stadions wird ein riesiges Transparent aufgerollt. „Fußball ist kein Radsport“, steht da. Slavia wurde 1892 als akademischer Radsportclub gegründet. Neben der Aufschrift prangt ein roter Judenstern. „Zigeuner“, schreien die Slavia-Fans. Seit Jahren kämpft der tschechische Fußballverband gegen Rassismus in den Stadien. „Leider wurde das früher sehr lax angegangen, Sparta etwa deckte die Hooligans lange Zeit“, sagt Experte Výborný. Inzwischen sind die Strafen, die die Clubs für rassistische Äußerungen und andere Regelverstöße der Fans in den Stadien an den Fußballverband zahlen müssen, so hoch, dass die Prager Großvereine empfindliche Verluste bei den Derbys hinnehmen müssen.

19. Spielminute.
Tor! Slavia-Verteidiger David Hubáček köpft den Ball ins Netz. Ins eigene. Der Slavia-Block springt trotzdem fröhlich weiter.

27. Spielminute.
Tor! Hubáček rutscht aus und ermöglicht Václav Kadlec einen unhaltbaren Schuss. 2:0 für Sparta. Vogelscheuche Vala schaut lieber gar nicht mehr aufs Spielfeld und singt den nächsten Refrain vor.

43. Spielminute.
Hooligans aus dem Slavia-Block entladen ihre Wut im benachbarten Block. Die niedrige Absperrung überwinden sie ohne Probleme. Zwei ältere Security-Leute sehen hilflos zu. Ein Klüngel purzelt prügelnd einige Reihen nach unten. Ein Journalist, der das Geschehen auf der Slavia-Tribüne festhält, bekommt kräftige Faustschläge ab.

Halbzeitpause.
Wenigstens der Slavia-Nachwuchs gibt Grund zum Feiern. 3:0 gewinnen die rot-weißen Kids gegen die Dunkelroten.

50. Spielminute.
Anschlusstreffer für Slavia. Die Ultras auf der Tribüne versinken im Rauch. Der Stadionsprecher wiederholt seinen freundlichen Hinweis.

66. Spielminute.
Auf Geheiß der Vogelscheuche reißen sich die Slavia-Fans ihre Trikots vom Leib und strecken sie von sich. Sie schreien „Rot-Weiße Kraft“.

84. Spielminute.
Stürmer Ladislav Krejčí macht den Sack für Sparta zu. Bierbecher fliegen. Zwei freundliche Hinweise vom Stadionsprecher.

85. Spielminute.
Sparta wechselt den Kameruner Léonard Kweuke ein. Die Slavia-Ultras begrüßen ihn mit Affengeräuschen. Kweuke antwortet mit einem gefährlichen Schuss aufs Slavia-Tor.

90. Spielminute.
Eine leere Glasflasche fliegt auf die Nachbar-tribüne. Knapp am Kopf eines Security-Mannes vorbei. Der nimmt kurz Anlauf, als würde er zurückwerfen. Er überlegt es sich anders. Die rot-weißen Spieler setzen sich niedergeschlagen vor die Fans. Die recken die Fäuste in die Höhe: „Hoch lebe Slavia!“

Ergebnis des 279. Derbys: 3:1 für Sparta. Die Tabellenführung geht ins Letná-Viertel. Slavia, der ewige Zweite, verschlechtert sich um einen Rang auf Platz neun. Eine Verhaftung. 25 Verdächtige. Ein mittelmäßiges Spiel.