Pfade finden im Sperrgebiet
Deutsche und tschechische Schüler begeben sich auf die Spuren verschwundener Dörfer im Böhmerwald
25. 4. 2013 - Text: Klaudia HanischText und Foto: Klaudia Hanisch
Würden die Schneeglöckchen nichts anderes verkünden, dann könnte man sich auch im tiefsten November wähnen. Es ist ein frostiger Apriltag, der den Böhmerwald mit kalter Nässe überzieht. In der Ferne steigen Dampfwolken auf. Wald soweit das Auge reicht. Kaum vorstellbar, dass sich hier früher einmal mehrere Dörfer befanden.
30 Schüler des Masaryk-Gymnasiums in Pilsen und der Gymnasialstufe des Schulzentrums „Geschwister Scholl“ in Bremerhaven sind aufgebrochen, um Spuren dieser Ortschaften zu suchen. Das Projekt heißt „Wege suchen – Geschichte sehen“ („Na cestě za přiběhy“). Anhand der Geschichte von Zwangsarbeit und Vertreibung setzen sich die Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren mit der Bedeutung des allgemeinen Rechts auf Freizügigkeit auseinander. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sowie der Deutsch-tschechische Zukunftsfonds sind die Hauptförderer des Projekts.
Bereits im November letzten Jahres waren die tschechischen Schüler für eine Woche in Bremerhaven zu Besuch. Nun ist der Gegenbesuch aus Deutschland da. In der Woche haben die Teenager bereits einen Angehörigen von Holocaust-Opfern in Prag getroffen. Am Tag darauf erzählte die 90-jährige Urgroßmutter der Schülerin Nela Randová, wie sie mit 17 Jahren als Zwangsarbeiterin nach München gebracht wurde. Alle Beteiligten waren von den Begegnungen mit den Zeitzeugen zutiefst beeindruckt.
Nun, an diesem winterlichen Frühlingstag, besuchen die Schüler das an einem Hang gelegene Dorf Mauthaus. Auf den ersten Blick fühlt man sich hier ein wenig verloren. Die Schüler bekommen alte Landkarten, versuchen sich zu orientieren und herauszufinden, wo sich was befand. Es sind nur wenige Spuren einer menschlichen Siedlung im Waldboden auszumachen. Reste, die von Menschen und Tieren nicht fortgetragen worden sind: teilweise erhaltene Keller, einzelne Gebrauchsgegenstände, der Knochen eines Nutztieres, wahrscheinlich ein Rind. Alte Fotografien geben den Schülern einen Eindruck vom Leben im Dorf. 1930 gab es in Mauthaus 34 Anwesen mit 188 deutschen Bewohnern. Es scheint, der Wald hätte mit der Zeit alles bedeckt: Ruinen, Straßen, menschliches Drama.
Wilde Wirtshausgeschichten
Zdeněk Procházka, Regionalhistoriker aus Leidenschaft, erzählt die Geschichte der verschwundenen Dörfer. Die Projektkoordinatorin Wiebke Wittenberg von der Bürgerinitiative Antikomplex übersetzt ins Deutsche: Nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens annektierte das Dritte Reich das gesamte Gebiet des Böhmerwaldes mit seiner langen Glasmacher-Tradition. Infolge des Zweiten Weltkriegs musste dann die deutsche Bevölkerung ihre Häuser verlassen. Ende der 1940er Jahre wurde eine Sperrzone im Grenzstreifen errichtet, der sich stellenweise bis zu zehn Kilometer von der Staatsgrenze ausdehnte. Schwere Bulldozer schluckten die Häuser, die jenseits dieses Streifens lagen, von der Landfläche.
40 Jahre lagen die Ruinen der Dörfer Maulthaus, Seeg und Grafenried quasi im Niemandsland. Nur wagemutige Wanderer wie Procházka trauten sich zur Zeit des Eisernen Vorhangs in das Sperrgebiet. Er erinnert sich an die vielen Grenzsoldaten und Schilder „Grenzzone – Betreten verboten!“. Erzählungen über Festnahmen in der Grenzzone entwickelten sich bald zu beliebten Wirtshaus-Geschichten. Prochazka selbst wurde etwa 15 Mal festgenommen, meistens aber nach kurzer Zeit wieder freigelassen.
Im Seeg treffen die Teenager Hans Laubmeier. Als er fünf Jahre alt war, wurde er zusammen mit seiner Mutter ausgesiedelt. Das war im Sommer 1946. Der Vater und der Bruder waren noch im Krieg.
Laubmeier nimmt die Schüler mit auf einen Spaziergang durch das Sumpftal, wo sich einst das Dorf erstreckte. Er weist mit dem Zeigefinger auf jene Stellen, an denen sich Häuser, Mühlen und Weiher befanden. Es sind die Erinnerungen eines fünfjährigen Jungen, die Laubmeier mit den Teenagern teilt: „Dort stand unser Haus, dort bin ich geboren. Gegenüber wohnte die Großmutter, die mir immer Äpfel schenkte.“ Unterhalb des Teichauslaufs zeigt er auf die Überreste eines Mühlenhauses. Aus einer Öffnung in der Mauer ragt immer noch die Welle des zerstörten Wasserrades heraus.
Das Vieh hatte Schmerzen
Zum Auswerten bekommen die Schüler ein gedrucktes Interview, in dem Laubmeier seinen letzten Tag in Seeg, den Tag seiner Aussiedlung, beschreibt. Dort lesen sie, wie die Dorfbewohner mit einem Lastwagen abgeholt wurden. Dass der Fahrer sehr schnell in die Kurven gefahren ist und die Menschen Angst hatten, herunterzufallen: „Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass die Hunde gebellt und die Kühe geschrien haben, das Vieh ist ja nicht gemolken worden und hatte Schmerzen“, erzählt Laubmeier.
Die Kälte und Nässe macht einigen Schülern langsam zu schaffen. Immer wieder nieselt es an diesem Tag. In der Gruppe sind Scouts, die mit Trekking-Schuhen, Wanderrucksäcken und Outdoor-Jacken auf das schlechte Wetter bestens vorbereitet sind. Doch einige Stadtkinder hadern damit, mehrere Kilometer zu Fuß zu laufen. Statt festem Schuhwerk tragen sie rote und weiße Chucks, die im Laufe der Wanderung durch den matschigen Waldboden Tarnfarben annehmen.
Die Gruppe erreicht das dritte verschwundene Dorf. In der Ruine eines Hauses bereitet der Geschichtslehrer Antonín Kolář mit einigen Schülern ein Lagerfeuer vor. Im Jahr 1930 lebten in Griefenried 247 Menschen. Es gab hier ein kleines Schloss, das als Schule genutzt wurde und eine Kirche mit Denkmalstatus. Unweit des ehemaligen Dorfplatzes hat sich der Friedhof erhalten, dessen Anblick an die Bilder von Caspar David Friedrich erinnert. Die wenigen erhaltenen Grundmauern sind überzogen mit einer hellgrünen Moosschicht.
Reiseführer geplant
Unweit der Feuerstelle stehen die Überreste der St.-Georg-Kirche, die 2011 auf Initiative von Laubmeier und Procházka freigelegt wurden. Die beiden hatten sich im Winter 1990/1991 kennen gelernt. Laubmeier sprach nur Deutsch, Prochazka Tschechisch. Doch das gemeinsame Interesse für die Geschichte der verschwundenen Dörfer war stärker als die Sprachbarriere. „Wir haben uns mit Händen und Füßen Zeichen gegeben“, sagt Laubmeier.
Am Ende des Projektes „Wege suchen – Geschichte sehen“ soll eine Broschüre als historischer Führer durch die besuchten Regionen erscheinen. Die Geschichte von Procházka und Laubmeier kann für die Teilnehmer des bilingualen Schulprojekts als bestes Beispiel dafür dienen, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft, die nicht einmal die gleiche Sprache sprechen, gut zusammenarbeiten und gemeinsam die Erinnerung an Orte am Leben halten können.
Laubmeier hat in Regensburg längst eine neue Heimat gefunden und lädt die Schüler herzlich ein, ihn dort zu besuchen. Auch darüber würde er ihnen gerne erzählen. Der Abschied von Laubmeier ist für viele ein rührender Moment. Doch am Ende des Tages sind die Schüler glücklich, wieder im warmen trockenen Bus nach Pilsen zu sitzen. Es fängt wieder an zu regnen.
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