Unerreichtes Ziel
Die Situation der Roma in Tschechien hat sich nicht verbessert – als einer der Hauptgründe gilt eine verfehlte
und diskriminierende Schulpolitik
5. 6. 2013 - Text: Ivan DramlitschText: id/čtk; Foto: simaje
Eigentlich wäre der 215. Todestag von Giacomo Casanova eine gute Gelegenheit für Duchcov (Dux) gewesen, sich als sehenswertes Ausflugsziel in Erinnerung zu bringen. Immerhin verbrachte der weltberühmte italienische Abenteurer und Schriftsteller seine letzten 13 Lebensjahre als Bibliothekar auf Schloss Dux, bevor er dort am 4. Juni 1798 verstarb. Doch der in Nordböhmen zwischen Teplice und Litvínov gelegene 9.000-Einwohner-Ort machte vergangene Woche mit einem Ereignis Schlagzeilen, das sich in Tschechien nunmehr regelmäßig zu wiederholen scheint: einer Anti-Roma-Demonstration.
In Duchcov versammelten sich rund 1.000 Menschen zu der unter dem Motto „Versammlung unzufriedener Bürger“ angemeldeten Veranstaltung. Sie war eine Reaktion auf einen Überfall Mitte Mai, bei dem fünf Roma ein junges Ehepaar mit Faustschlägen und Fußtritten verletzt haben sollen. Einer der Organisatoren der Kundgebung, der ortsansässige Jindřich Svoboda, brachte die Stimmung der Anwesenden – dem dafür geernteten Beifall zufolge – auf den Punkt: „Ich will nicht alle Roma über einen Kamm scheren. Aber wenn sie sich beschweren, dass ihnen so viel Unrecht widerfährt, warum packen sie dann nicht ihre Sachen und gehen weg?“ Dass Jindřich Svoboda ein „unzufriedener Bürger“ mit einem ganz gewissen Weltbild ist, belegen seine Kommentare in sozialen Netzwerken, wo er unter anderem zum Töten der „Schwarzen“ aufrief. Nur einem massiven Polizei-Einsatz ist es zu verdanken, dass es in Duchcov, abgesehen von kleineren Handgemengen, weitgehend gewaltfrei zuging.
Regelmäßige
Anti-Roma-Demos
Dass derartige Manifestationen des „Volkszornes“ leicht in sinnlose Gewaltorgien umschlagen können, zeigen die Vorgänge im Schluckenauer Zipfel vom August 2011. Auch dort war der Anlass eine körperliche Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Roma und Nicht-Roma, bei der es mehrere Verletzte gab. Bei den darauf folgenden tagelangen Anti-Roma-Demonstrationen kam es zu massiven Gewaltexzessen, die erst von speziell ausgerüsteten Polizei-Sondereinheiten aus der Hauptstadt beendet werden konnten.
Symptomatisch war auch der Fall, der im vergangenen Frühjahr wochenlang für Schlagzeilen sorgte: In Břeclav (Lundenburg), nahe der österreichischen Grenze, wurde ein junger Mann mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Er sei von Roma überfallen worden, behauptete der 15-Jährige. Die Medien berichteten ausführlich, die meisten Journalisten nahmen den Jungen beim Wort. In der Stadt kam es zu wütenden Anti-Roma-Protesten, es herrschte Pogrom-Stimmung. Schließlich das Geständnis des Jungen: Der Überfall war ausgedacht, die Verletzungen zog er sich bei einem Sturz zu.
Alle diese Beispiele zeigen: Knapp 25 Jahre nach der Samtenen Revolution ist das Verhältnis zwischen Mehrheitsbevölkerung und den geschätzten 250.000 Roma schlechter denn je. Aktuelle soziologische Untersuchungen stützen diese Diagnose. Demnach bezeichnen 87 Prozent der tschechischen Bevölkerung das Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen als schlecht. Das ist der schlechteste Wert seit 1997, als diese Daten zum ersten Mal erhoben wurden. Auch die Aussagen zur persönlichen Einstellung sind deutlich: Insgesamt 69 Prozent der Tschechen haben eine ablehnende Haltung gegenüber Roma, 13 Prozent fühlen gar Abscheu.
Verwehrter Bildungszugang
Dass die gescheiterte Integration der Roma in Tschechien auch ein Versagen der Politik ist, darauf weisen regelmäßig nicht nur Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hin, sondern auch Institutionen wie der Europa- und der UN-Menschenrechtsrat. Einer der Hauptvorwürfe lautet, der tschechische Staat tue zu wenig gegen die Segregation der Roma-Kinder im Schulwesen – also die Tatsache, dass die allermeisten von ihnen „automatisch“ auf eine Sonderschule geschickt werden und dort wie Schüler mit leichter geistiger Behinderung behandelt werden; eine Praxis, für die Tschechien zwar 2007 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde, die aber dennoch weiter anhält.
Untersuchungen haben gezeigt, dass der Roma-Anteil an den Sonderschulen zwischen 32 und 35 Prozent beträgt, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung aber lediglich auf 1,4 bis 2,8 Prozent geschätzt werde. „Was die Menschenrechte in Tschechien angeht, so ruft diese Segregation nach wie vor ernste Beunruhigung hervor. Dieser Missstand muss weiterhin intensiv bekämpft werden“, konstatierte EU-Menschenrechtskommissar Nils Muižnieks in seinem Bericht vom Februar dieses Jahres. Er fordert darin Prag auf, die Roma-Kinder in das normale Schulsystem zu integrieren und die ehemaligen Sonderschulen, die heute „Praktische Grundschulen“ heißen, abzuschaffen, da sie Segregation und Rassismus förderten.
Auch von Roma-Seite wird inzwischen Druck gemacht. Ein im vergangenen Jahr gegründeter „Krisenstab“, der mehrere Dutzend Roma-Studenten und –Intellektuelle vereint, forderte im März in einem offenen Brief an den Regierungschef und den Bildungsminister, die Schulpolitik in Bezug auf Roma-Kinder radikal zu ändern. „Nach wie vor werden die Schüler in Kategorien eingeteilt, womit der gleichberechtigte Zugang zu Bildung verwehrt wird“, heißt es in dem Schreiben.
Mit dem Problem der sogenannten Praktischen Grundschulen beschäftigt sich Petra Klinger von der tschechischen Bürgerrechtsorganisation „Člověk v tísni“ („Mensch in Not“). Sie hält die aktuelle Situation für einen „kranken Zustand“, aber gleichzeitig für ein Dilemma, da dieser Zustand grundsätzlich allen entgegenkomme: den Beamten, den Eltern von Nicht-Roma-Kindern und auch den Lehrern der anderen Schulen, die die Roma-Kinder loswerden. „Und das Schlimmste ist, dass das schlussendlich auch den konkreten Roma-Familien entgegenkommt. Weil die Ansprüche der Praktischen Grundschulen so minimal sind, dass die Kinder da im Prinzip noch nicht mal hingehen müssen“, so Klingerová.
Dass auch die Roma-Eltern für die Bildungsmisere ihrer Kinder eine Mitverantwortung tragen, wird von der Roma-Gemeinschaft mittlerweile anerkannt. Obwohl die Sonderschulen eigentlich für Kinder mit leichter geistiger Behinderung bestimmt sind, wollen viele Roma-Eltern, dass ihre Kinder sie besuchen – teils aus Unkenntnis, teils deshalb, weil sie selbst diese Schule besucht haben. Verstärkte Aufklärungsarbeit innerhalb der Roma-Gemeinschaft über die Wichtigkeit der Schulbildung gilt deshalb neben einer veränderten Schulpolitik als Schlüssel für die Emanzipation der tschechischen Roma-Minderheit.
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