Ein Lagebericht von der Moldau
In Mittelböhmen sinken die Pegel langsam, die Aufräumarbeiten beginnen. Politiker versprechen Dämme und Barrikaden, wie vor elf Jahren
12. 6. 2013 - Text: Peggy LohseText: Peggy Lohse; Foto: čtk
Vor drei Tagen ist die Scheitelwelle der Moldau durch die Stadt geschwappt. Die Pegel sinken nur sehr langsam. Die Straßen von Kralupy nad Vltavou sind von einem grau-braunen Film überzogen. Ein modriger Gestank liegt in der Luft. Heute scheint die Sonne und lockt die Menschen aus ihren Häusern. Zumindest die, deren Häuser vom Wasser verschont geblieben sind. Die Betroffenen räumen, fegen und pumpen. Im Zentrum der Stadt nördlich von Prag sind Feuerwehr-, Polizei- und Müllautos aller Größen und Jahrgänge unterwegs. Möbel stehen zum Trocknen in der Sonne. Bergeweise wird durch das Wasser unbrauchbar Gemachtes abtransportiert.
Am Sonntag, 2. Juni wurde in Kralupy die Hochwasserwarnstufe 3 ausgerufen. Das ist die höchste Gefahrenstufe auf der Skala. Über den Zákolanský-Bach wurde das Wasser ins Stadtinnere hinein gedrückt. Die 14.000-Einwohner-Stadt war den Fluten nahezu schutzlos ausgeliefert.
Elf Jahre sind seit dem Jahrhunderthochwasser verstrichen. Damals wurden Dämme und Barrieren versprochen. Gebaut wurde nichts. Schuld trügen die frühere Stadtverwaltung und bürokratische Hürden, heißt es aus dem Rathaus. Und man moniert den Egoismus der Prager. „Uns hat es sehr geärgert, dass aus den Moldau-Kaskaden mehr und mehr Wasser abgelassen wurde. Wir in Kralupy spüren nun jeden Zentimeter“, sagte der Bürgermeister Petr Holeček am Dienstag vergangener Woche, als sich die Flutwelle näherte.
Energie vor Schutz
Der Vorwurf ist in diesen Tagen überall flussabwärts der Hauptstadt zu hören: Zu spät sei das Wasser aus den sogenannten Kaskaden, einem mehrstufigen System von Staudämmen entlang der Moldau, abgelassen worden. Schuld daran seien wirtschaftliche Interessen und die Prager. Dort sei man gut geschützt, habe die Wassermassen mit Barrikaden zurückhalten können. Weiter unten am Flusslauf habe man für das späte Handeln bezahlen müssen. Die Betreiber der Staudämme verweisen darauf, dass die Kaskaden an erster Stelle dem Energiegewinn dienen, erst an zweiter Stelle dem Hochwasserschutz.
Noch am Freitag steht auf der Hauptstraße in Kralupy unter der Eisenbahnbrücke Wasser. Der Bach ist noch immer fast bis zum Rand gefüllt, genauso wie die Keller der anliegenden Gebäude. „Das Wasser stand hier bis zum Klingelschild“, zeigt der Besitzer eines Blumenladens. Das Klingelschild hängt auf Brusthöhe. Er und sein Sohn wischen gemeinsam mit der ganzen Familie die Ladenräume aus. „Wir tun, was wir können“, sagt der Blumenhändler und blickt besorgt auf das, was das Wasser aus seiner Existenzgrundlage gemacht hat. Er sieht müde aus.
Die Innenstadt ist für den öffentlichen Verkehr gesperrt, damit die Aufräumarbeiten nicht behindert werden. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Geschäfte der Innenstadt geschlossen. Im Restaurant „Na Františku“ am Zákolanský-Bach sitzen freiwillige Helfer, Polizei und Feuerwehr gemeinsam beim Mittagessen.
Lehren aus dem Wasser
Kralupy ist eine von ungefähr 700 Gemeinden, die in den vergangenen zwei Wochen vom Hochwasser heimgesucht wurden. 2.500 Menschen wurden allein in der Kleinstadt evakuiert, etwa 19.000 in ganz Tschechien. Zu Redaktionsschluss am Dienstag wurden elf Todesopfer gezählt. Zum Vergleich: 2002 mussten 250.000 Menschen ihre Häuser verlassen, 17 starben.
Man habe aus dem Jahrhunderthochwasser gelernt. Aber vor allem habe das Wasser in diesem Jahr nicht die zerstörerische Kraft von vor elf Jahren erreicht, erklärt der Geologe und Klimaforscher Václav Cílek. Einige Orte erlitten trotzdem erneut ein ähnliches Schicksal. So wird zum Beispiel die langfristige Gesamtrekonstruktion der Weltkulturerbe-Stadt Český Krumlov nach dem Abtrocknen von Neuem beginnen müssen. Auch der untere Teil des Prager Zoos wurde erneut überschwemmt, weil er, laut seinem Direktor Miroslav Bobek, nicht ausreichend ins städtische Hochwasserschutzprogramm integriert wurde.
Angst vor Regen
Ein besonders tragisches Schicksal erlitt die 400-Seelen-Gemeinde Zálezlice. 2002 brachte die Flut 121 Häuser im Dorf zum Einsturz. Alles musste neu errichtet werden. Der Bau der vor elf Jahren geplanten Schutzdeiche verzögerte sich, wegen fehlenden Genehmigungen und archäologischen Funden. Die Dämme sollten in drei Monaten fertiggestellt sein. Das Wasser kam ihnen zuvor. Bürgermeister Jiří Čížek gibt sich am Freitag überraschend optimistisch: „Das Wasser sinkt und die Sonne scheint. Das ist das Wichtigste!“ Man werde auch in Zukunft mit Fluten rechnen müssen. In Zálezlice wolle man lernen, mit dem Wasser zu leben. „So schnell wie möglich werden wir den Deich fertig stellen“, verspricht Čížek. In seinem Dorf, das zwischen Elbe und Moldau liegt, wurden die Aufräumarbeiten schon während des Wasseranstiegs organisiert. Am Freitag sind die ersten Freiwilligen unterwegs nach Zálezlice. Landesweit konnten Schätzungen zufolge bis Anfang dieser Woche mehr als 28 Millionen Kronen (etwa 1,1 Millionen Euro) gesammelt werden. Die Hilfsbereitschaft ist den Organisationen zufolge sehr hoch.
Nach der Krisenstabssitzung am Freitagnachmittag gibt sich der Bürgermeister von Kralupy weniger zuversichtlich als sein Kollege in Zálezlice. Die Evakuierung in den letzten zwei Stadtteilen Na Hrádku und im Stadtzentrum wurden zwar aufgehoben. Die Menschen können in ihre Häuser zurückkehren. In den nächsten Tagen soll auch die Elektrizität wieder funktionieren. Bange sei ihm jedoch vor weiteren Regenfällen, die Moldau stünde noch immer eineinhalb Meter über ihrem Normalpegel. „Wir sind immer noch überflutet und wissen nicht einmal – kommt es wieder, das Wasser, oder kommt es nicht wieder?“ Damit spricht Petr Holečk den Bewohnern seiner Stadt drei Tage nach der Scheitelwelle aus der Seele. Am Freitag nähren vorausgesagte Regenfälle diese Angst.
Erst am Dienstag geben die Behörden Entwarnung: Man erwarte kein weiteres Ansteigen der Pegel.
Bürgermeister Holeček schätzt die Schäden in seiner Stadt auf 50 bis 70 Millionen Kronen (1,9 bis 2,7 Millionen Euro) – vorläufig. Die Uferstraße steht noch immer unter Wasser. Keine zwei Jahre soll es dauern, bis in Kralupy endlich Schutzwälle und Betonbarrikaden stehen, heißt es im Rathaus. Bleibt zu hoffen, dass den Politikern dieser Tatendrang länger erhalten bleibt als nach der großen Flut vor elf Jahren.
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