Verkommene Schönheiten
Die Münchner Ausstellung „Idyllisch und hilflos“ zeigt verfallende Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts
12. 6. 2013 - Text: Sabina PoláčekText: Sabine Poláček; Foto: Michael Míček
Villa Mírov, um die Jahrhundertwende Sommersitz des tschechischen Industriellen Josef Seykora, ist dem Tode geweiht. So beschreibt Schauspieler und Schriftsteller David Vávra in einem Gedicht den Zustand der einst prunkvollen Jugendstilresidenz im nordostböhmischen Kostelec nad Orlicí. Seitdem das Haus 1928 dem Staat zum Opfer fiel, steht es verlassen da: mit zerschlagenen Fensterscheiben und einem von wuchernden Büschen verwachsenen Hauseingang – zwar idyllisch, jedoch hilflos.
Um auf den Verfall vieler solcher denkmalgeschützter Gebäude in Tschechien hinzuweisen, erarbeitete Fotograf Michael Míček die Ausstellung „Idyllisch und hilflos“. Unter der Schirmherrschaft von Außenminister Karel Schwarzenberg präsentiert das Tschechische Kulturzentrum in der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München ab 20. Juni Míčeks 66 Panoramafotografien in Schwarz-Weiß. Sie zeigen heruntergekommene, in Vergessenheit geratene Beispiele moderner Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts in Böhmen, Mähren und Schlesien. „Die Gebäude waren in einem desolaten Zustand“, erinnert sich der 45-jährige Fotograf aus Ostrava. „Einerseits hat mich das verzaubert. Andererseits zeigten die Objekte eine traurige Realität.“
Entstanden sind die Bilder während der Dreharbeiten der populären Dokumentarserie „Šumná města“ („Berauschende Städte“) von David Vávra und dem Theaterregisseur und Drehbuchautor Radovan Lipus. Mit 66 Folgen gelang es dem Team zwischen 1995 und 2008, die Zuschauer über den Stand der Denkmäler in Tschechien unterhaltsam zu informieren. Der 2003 zum ersten Mal veröffentlichte Fotokalender erfreute sich großer Beliebtheit – weitere Exemplare folgten. Daraus konzipierten die Mitglieder des Bürgervereins „Šumná města“ eine Wanderausstellung, die seit 2007 weltweit unterwegs ist – von Prag, Wien, Dresden, über Stockholm und Rom bis nach New York und Tokio. Begleitet werden die Werke von Vávras Kurzgedichten zum Bauzustand in englischer und deutscher Sprache.
Den richtigen Moment einfangen
„Die Aufnahmen gestalteten sich schwierig. Ich fotografierte mit einer russischen Panoramakamera der Marke Horizont, die sich für vertikale Architektur eigentlich nicht eignet“, erinnert sich Míček. Zudem war Hochsommer, sodass der Künstler oft vergeblich auf Wolken und eine düstere Atmosphäre wartete, die den morbiden Charme der Gebäude unterstrichen hätten. „Manchmal harrte ich bis zu vier Stunden aus, bis sich der Himmel endlich verzog.“
Was bleibt, ist Reminiszenz
Ob die Serie und die Ausstellung vernachlässigte Architektur tatsächlich vor dem Verfall retten konnten? Nach Schätzung des Kurators Tomáš Hendrych – einer der Mitglieder des Bürgervereins „Šumná města“ – wurden dank dieser Idee etwa 70 Prozent der bröckelnden Bauten renoviert. Auch Lenka Faltysová, Verantwortliche für Kultur und Denkmalpflege der Stadt Kostelec nad Orlicí, bekräftigt: „Unsere Stadt ließ sich 2003 durch den Besuch des Fernsehteams inspirieren.“ Seitdem investiere die Stadtverwaltung regelmäßig in den Denkmalschutz. Die verwunschene Villa Mírov „befindet sich jedoch in unverändertem Zustand“, so Faltysová. Für Martin Strakoš von der Dokumentationsabteilung der Tschechischen Denkmalschutzbehörde in Ostrava kein Einzelfall: „Der Dokumentarfilm war eine sehr lobenswerte Tat. Aber ob er direkt zur Rettung einiger Gebäude bei uns in Ostrava beitrug – das sicherlich nicht.“
Die Serie steuerte seiner Meinung nach lediglich dazu bei, dass die Zuschauer den Bauten in den Klein- und Großstädten mehr Beachtung schenkten. „Manche denkmalgeschützte Gebäude wie das ehemalige städtische Schlachthaus oder das Kaufhaus Textilia-Ostravica verfallen jedoch unaufhaltsam.“ Und so schwingt in Míčeks Ausstellung ein Hauch Melancholie mit. So wie Vávra über die Jugendstilvilla Mírov schreibt: „Von prunkvoller Eleganz bleibt nur Reminiszenz. Wie ein Todgeweihter in seiner Zelle. Es bleibt nur noch wenig Zeit. Seine Hinrichtung droht – durch unsere Teilnahmslosigkeit.“
Michael Míček: „Idyllisch und hilflos“, Hochschule für angewandte Wissenschaften München, 20. Juni bis 4. Juli, weitere Informationen unter www.munich.czechcentres.cz
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