Liebeserklärung an die Heimat
Im Zentrum von Madeleine Albrights Autobiografie „Winter in Prag“ steht weniger ihre eigene Kindheit als vielmehr tschechische Zeitgeschichte
3. 7. 2013 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Siedler Verlag
Der Titel des Buches „Winter in Prag“, dazu der Untertitel „Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg“ mit einem Foto der kleinen Madlenka auf der Umschlagseite machen den Leser neugierig auf die Kindheitserinnerungen der Grand Dame der amerikanischen Außenpolitik. Doch er wird enttäuscht. Statt einer Familiengeschichte bekommt er 500 Seiten tschechische Zeitgeschichte vorgesetzt. Die freilich sind kenntnisreich und flott geschrieben.
Madeleine Albright, 1937 als Marie Jana Körbelová in Prag geboren, war von 1997 bis 2001 unter Präsident Bill Clinton Außenministerin der USA. Zweimal musste die Familie aus ihrer tschechischen Heimat fliehen, 1938 vor Hitler nach England und dann 1948 vor den Kommunisten, diesmal für immer in die Vereinigten Staaten.
Erst mit 59 Jahren, kurz vor ihrem Amtsantritt als Außenministerin, erfuhr die Autorin, dass 25 Familienangehörige Opfer des Holocaust geworden sind. Eine schmerzliche Wahrheit, die ihr die Eltern Zeit ihres Lebens verschwiegen haben. Das Schweigen der Eltern über ihre jüdische Herkunft hat Albright motiviert, intensiv nach ihren Wurzeln zu forschen. Als Ersatz für eine kaum noch rekonstruierbare Familiengeschichte, vertieft sich Albright in die tschechische Historie der Jahre 1937 bis 1948. Jene Epoche, in der mit der Besetzung der Tschechoslowakei ein langer „Winter in Prag“ und darüber hinaus in ganz Europa begann.
Anstelle persönlicher Erinnerungen entwickelt sich das Buch zu einer Liebeserklärung gegenüber ihrer tschechischen Heimat. Sie sei, so die Autorin, schon früh „zu der Überzeugung gelangt, dass mein Vaterland etwas ganz Besonderes sei, ein Land voller humanistisch und demokratisch gesinnter Menschen, die einen unablässigen Überlebenskampf gegen feindliche Unterdrücker geführt haben.“ Die Reihe der Helden einer glorreichen Vergangenheit beginnt mit Karl IV. und Jan Hus und wird in neuerer Zeit vor allem von Tomáš Garrigue Masaryk, seinem Sohn Jan und Václav Havel fortgesetzt. Auch ihren Vater, der sich der politischen Ethik von Masaryk verpflichtet fühlte, zählt sie dazu. Er war ein angesehener Diplomat, der unter den Außenministern Edvard Beneš und dann von 1945 bis 1948 unter Jan Masaryk unter anderem als Botschafter in Bukarest tätig war.
Blindheit und Naivität
Wer über die Beweggründe, die das politische Handeln von Albright bestimmt haben, etwas erfahren möchte, findet in ihrem Buch dazu Antworten, vor allem in dem ausführlichen Kapitel über das Münchner Abkommen von 1938. Albright hatte sich 1999 für den umstrittenen Nato-Einsatz gegen Serbien im Kosovo-Konflikt eingesetzt. Bei dieser Entscheidung, einer Diktatur mit Waffengewalt entgegenzutreten, hat fraglos das Schicksal ihrer tschechischen Heimat die entscheidende Rolle gespielt. Aus Albrights Sicht haben England und Frankreich mit dem Münchner Abkommen Hitler die Tschechoslowakei geradezu auf einem silbernen Tablett übergeben. Für sie war dies der große Sündenfall, denn der darauffolgende Krieg und der Holocaust sind in ihren Augen auch eine Folge der Appeasement-Politik gewesen.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Jahr 1948, als die Kommunisten auf scheindemokratischem Weg an die Macht kamen. Wieder waren es Blindheit und Naivität demokratisch gesinnter Politiker, die laut Albright der Diktatur zum Erfolg verhalfen.
Edward Beneš, über den von sudetendeutschen Funktionären bis hin zu Jiří Gruša vernichtende Urteile gefällt worden sind, wird von Albright differenzierter dargestellt: In ihren Augen war es sein Ziel, mit seinem Land eine Vermittlerrolle im beginnenden Kalten Krieg zwischen Amerika und Russland einzunehmen. Auf diese Weise habe Beneš die Tschechoslowakei aus der drohenden Umklammerung durch die stalinistische Despotie lösen wollen. Aber er vermochte nicht, sich bei der Vertreibung und der kommunistischen Machtübernahme gegen die Mehrheit der öffentlichen Meinung zu stellen. Was die Vertreibung betrifft, teilt Albright die Meinung Václav Havels, der für sie Größe zeigte, als er sich im Namen seines Volkes für die Verfolgung und Ermordung der Deutschen entschuldigte.
Ihre kluge Analyse eines der wichtigsten Kapitel der Zeitgeschichte beschließt Madeleine Albright mit einer denkwürdigen Überzeugung: „Die Welt wäre mit Sicherheit besser, wenn Frauen mehr Macht hätten als heute.“
Madeleine Albright: „Winter in Prag. Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg“, Siedler Verlag, München 2013, 541 Seiten, 24,99 Euro, ISBN 978-3-88680-988-2
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?