Die Grande Dame der Prager Literatur
Vor fünf Jahren starb Lenka Reinerová. Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren erinnert an die Weggefährtin Kischs
3. 7. 2013 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: Miro Švolík/Labyrint
Wer wissen will, wie Franz Kafka gesprochen hat, sollte Lenka Reinerová zuhören.“ Das sagte der bekannte Verleger und Kafka-Forscher Klaus Wagenbach, nachdem er vor Jahren in Berlin das Glück hatte, Reinerová persönlich kennenzulernen. Anlässlich ihres fünften Todestages veranstaltete das Prager Literaturhaus in der vergangenen Woche einen Erinnerungsabend an die letzte deutschsprachige Autorin Prags, die am 27. Juni 2008 im Alter von 92 Jahren gestorben war.
Lenka Reinerová muss eine ungewöhnlich herzliche, dabei grundsatzfeste und selbstbewusste Persönlichkeit gewesen sein. Eine tief in ihr verwurzelte Humanität spricht uns aus ihren überwiegend autobiografisch gefärbten Erzählungen noch heute an; sie bildete die Grundmelodie der mannigfachen Reminiszenzen, die an diesem Abend zur Sprache kamen.
Reinerovás Leben umspannte fast das gesamte 20. Jahrhundert. In ihren Schicksalsschlägen spiegelt sich alles Unglück dieser Zeit wider. 1916 im Prager Stadtteil Karlín in eine deutsch-tschechische jüdische Familie geboren, erhielt sie schon früh Gelegenheit, ihr Talent zum Schreiben zu erproben. Noch nicht 20 Jahre alt, begann sie für die von Franz Carl Weiskopf geleitete – und nach Hitlers Machergreifung von Berlin nach Prag verlegte – „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ zu schreiben. Auf diese Weise knüpfte sie früh enge und teils dauerhafte Kontakte zu deutschen Exilanten in Prag – etwa Ernst Bloch, Wieland Herzfelde, Stefan Heym und John Heartfield – sowie zu Prager Literaten wie Max Brod, Egon Erwin Kisch und Franz Werfel. Ihre Herkunft und Weggefährten bewirkten, dass ihr Herz zeitlebens links schlug.
Ihre jüdischen Wurzeln und ihre politische Einstellung ließen ihr 1939 keine andere Wahl als die Emigration. Durch Zufall hielt sie sich zum Zeitpunkt der Zerschlagung der Tschechoslowakei in Rumänien auf und kehrte, rechtzeitig von ihrer Schwester gewarnt, nicht nach Prag zurück. Ihre gesamte Familie wurde später von den Nazis ermordet. Aus Frankreich, wo sie wie viele andere Exilanten lange Zeit in Internierungslagern festgehalten wurde, gelangte sie dank der Fürsprache von Freunden über Marokko nach Mexiko. Dort arbeitete Reinerová für die Vertretung der tschechoslowakischen Exilregierung. Denn sie hatte „schon ein komisches Gefühl, so in der Sonne unter Bananen zu sitzen, während daheim in Europa der Krieg wütete“, wie sie sich später in einem Spiegel-Interview erinnerte. Zudem redigierte sie in Mexiko gemeinsam mit Kisch die Zeitschrift „El Checoslovaco en México“.
Mit ihrem Mann, einem jugoslawischen Arzt und Schriftsteller, kehrte Reinerová 1945 nach Europa zurück, zunächst für drei Jahre nach Belgrad und 1948 weiter nach Prag. 1952 geriet sie in die Mühlen des stalinistischen Terrors – die Kombination „Jüdin-Westemigration-Jugoslawien“ prädestinierte sie geradezu dafür. 15 Monate verbrachte sie in Ruzyně in Untersuchungshaft, erst 1964 wurde sie rehabilitiert. Ihr Engagement im Prager Frühling trug ihr 1969 erneut ein Publikationsverbot ein. Dank dem Einsatz Anna Seghers und anderer Freunde konnten ihre Werke trotzdem im Aufbau-Verlag der DDR erscheinen.
Im Westen Deutschlands wurde Reinerová erst nach der Wende bekannt und gelangte spät noch zu hohen Ehren. Sie erhielt 1999, als erste überhaupt, den Schiller-Ring der Deutschen Schillerstiftung, 2003 die Goethe-Medaille und 2006 das Große Bundesverdienstkreuz. Bereits 2002 war sie von Prag mit der Ehrenbürgerschaft geehrt worden. Schließlich lud sie der Deutsche Bundestag ein, am 25. Januar 2008 anlässlich seiner Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus die Gedenkrede zu halten. Von Krankheit bereits schwer gezeichnet, war es ihr leider nicht vergönnt, die Rede und ein Fragment aus einem ihrer Bücher persönlich im Plenum vorzutragen. An ihrer Stelle waren Tochter und Enkelin nach Berlin gekommen, die Schauspielerin Angela Winkler trug Reinerovás Rede vor. In ergreifenden Worten erinnerte sie an das Schicksal der Familie. Zum Schluss sprach sie von Reinerovás Hoffnung, „eine bescheidene kleine ‚Klammer‘ für das Einandernäherkommen“ zu sein. Man müsse aber noch mehr tun, „um einander möglichst gut zu verstehen. Das hat mich unter anderem dazu veranlasst, in Prag ein Literaturhaus unserer deutschsprachigen Autoren zu gründen.“
Der Gedenkabend im Literaturhaus klang mit einer Tonaufzeichnung von Lenka Reinerová aus. Viele vernahmen ergriffen die bekannte Stimme, andere hörten erstmals das Prager Deutsch, auf das sie so stolz war. Sie hatten nun, wenn Wagenbach Recht hatte, eine leise Ahnung davon, wie Franz Kafka gesprochen hat.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?