Großes Gefälle

Großes Gefälle

In den Grenzregionen wird Deutschunterricht nachgefragt, anderswo immer weniger

24. 10. 2012 - Text: Ivan DramlitschText: Ivan Dramlitsch; Foto: Deutsche Botschaft Prag

Der Blick auf die nackten Zahlen ist ernüchternd, der Abwärtstrend erschreckend deutlich. Lernten im Jahr 2003 noch knapp 220.000 tschechische Grundschüler Deutsch, so waren es 2010 gerade mal knapp über 100.000. Das ist ein Rückgang von über 50 Prozent in nicht einmal zehn Jahren. Logischerweise sieht es auch auf den weiterführenden Mittelschulen und Gymnasien nicht viel besser aus – auch dort sind die Deutschlerner-Zahlen markant eingebrochen.

Dass es sich hierbei nicht nur um abstrakte Zahlenspiele handelt, sondern man es mit einer Entwicklung zu tun hat, die im Schulbetrieb deutliche Spuren hinterlässt, bestätigt Hana Nejepinská, Deutschlehrerin am Josef-Ressel-Gymnasium im ostböhmischen Chrudim: „Deutsch wollten von Jahr zu Jahr immer weniger Schüler lernen. Es gab Jahre, da kam überhaupt keine Deutsch-Klasse zustande“, so die Germanistin. Zwar habe man „hoffentlich die Talsohle erreicht“, und dieses Jahr habe es ganz überraschend 42 Deutsch-Anmeldungen gegeben – so viele wie in den vergangenen 20 Jahren nicht – aber ob dies ein neuer Trend oder nur die die Regel bestätigende Ausnahme ist, bleibt abzuwarten.

Die Gründe für das rückläufige Interesse an der deutschen Sprache sind vielschichtig. Von Bedeutung ist ein Umstand, der im Schulsystem angelegt ist: Die Empfehlung des Ministeriums, Englisch als erste Fremdsprache einzuführen, wird von den allermeisten Schulen als Verordnung verstanden und oft unreflektiert umgesetzt. Deutsch ist in der Regel zweite Fremdsprache und damit ein Wahlfach. Und als solches hat es aufgrund des tschechischen Bildungsrahmenprogramms einen schweren Stand: „Es steht dann nur eine geringe Stundenanzahl zur Verfügung, der Unterricht findet oft am Nachmittag statt, und vielleicht sind die Lehrer auch nicht immer besonders gut und motiviert – da kommt dann nicht viel dabei heraus, am ehesten eine emotionale Abneigung gegen Deutsch“, so der Sprachwissenschaftler Oliver Engelhardt, der sich als Co-Autor einer Studie mit der Situation des Deutschunterrichts in Tschechien befasst hat. Die Folge: Wenn an den Mittelschulen überhaupt noch Deutsch gewählt wird, dann fängt man oft bei null an. Außerdem, so eine Bestimmung, müssen Eltern, deren Kinder sich nicht für Englisch als erste Fremdsprache entscheiden, nachweislich darauf hingewiesen werden, dass ein adäquater Sprachunterrichts-Anschluss an den Mittelschulen nicht gewährleistet sein muss. „Das wirkt abschreckend“, so Engelhardt.

Gegen den Trend
Es gibt aber auch positive Signale. In den an Deutschland und Österreich grenzenden Regionen ist die deutsche Sprache sehr wohl ein Thema. Hier ist das Nachbarland auch im Lebensalltag der Menschen sehr viel präsenter, es gibt zahlreiche geschäftliche, aber auch private Kontakte und Verflechtungen. Bei der Fremdsprachenwahl spielt das dann eine erhebliche Rolle. Viele Schulen im Grenzgebiet haben sich darauf eingestellt und bieten – entgegen dem landesweiten Trend – Deutsch als erste Fremdsprache an. „Das ist gut und ermutigend und ein schönes Beispiel dafür, dass man die Lage vor Ort anders einschätzt“, bestätigt Sprachforscher Engelhardt die Verhältnisse in den Grenzregionen.

Es verwundert daher nicht, dass Prager Erwägungen, Englisch als erste Fremdsprache verbindlich festzulegen, in den grenznahen Regionen auf Unverständnis stoßen. „Gerade in den Grenzregionen würde das die Verhältnisse auf den Kopf stellen“, kommentierte die Vorsitzende des Germanisten- und Deutschlehrerverbandes, Renate Šebestová, diese Pläne. Dass die Nachfrage nach Deutschunterricht in diesen Regionen tatsächlich groß ist, bestätigt auch Richard Neugebauer, der als Vizepräsident der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien unter anderem für den Kontakt mit den Schulen zuständig ist. „Es gibt viele tschechische Eltern, die schicken ihre Kinder sogar in einen deutschen Kindergarten“, so Neugebauer, der viel unterwegs ist und die Verhältnisse vor Ort gut kennt. Gleichzeitig ist er sich des Gefälles zwischen den Grenzgebieten und den übrigen Regionen voll bewusst. „Ich denke, dass das auch zukünftig so sein wird – in bestimmten Gegenden, vor allem den grenznahen, wird Deutsch eine sehr wichtige Rolle spielen, anderswo wird es eine Fremdsprache unter vielen sein und mit Russisch und Spanisch konkurrieren“, meint Neugebauer.

Russisch im Kommen
Dem Abwärtstrend schaut man von offizieller Seite aber nicht tatenlos zu. Sprachkampagnen wie „Šprechtíme“ (siehe Interview auf dieser Seite), an der mehrere deutsche und österreichische Institutionen in Tschechien beteiligt sind, sollen junge Menschen dazu motivieren, Deutsch zu lernen. Denn, so heißt es aus der Wirtschaft (gemeint sind vor allem die deutschen und österreichischen Unternehmen in Tschechien), es gibt einen Mangel an qualifizierten und deutsch sprechenden Mitarbeitern. Kein Wunder also, dass Deutsch in diesem Zusammenhang vor allem als Karrieremotor präsentiert wird. Ob die Botschaft bei den jungen Leuten ankommen wird, bleibt abzuwarten. Denn bisher spielten bei den Schülern derartige Erwägungen, so sind sich Lehrer und Experten einig, kaum eine Rolle. Manchmal können die Motive bei der Fremdsprachenwahl eben sehr banal sein. Die stetig steigende Popularität des Russischen ist so ein Fall. Das einstige Hass-Fach erlebt eine ungeahnte Renaissance. „Ich höre eigentlich immer nur eine Begründung: Russisch als slawische Sprache fällt den Schülern leichter zu erlernen. Mehr steckt da wohl nicht dahinter“, meint die Chrudimer Deutsch-Lehrerin Hana Nejepinská.