Glückwunsch, Prag 4!
Glosse

Glückwunsch, Prag 4!

Der vierte Stadtbezirk bringt seine Bewohner zur Weißglut. Dabei ist er nur besonders fortschrittlich - ohne es jedoch preiszugeben

10. 1. 2020 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Jannis Lucas

Mein Traum ist fürchterlich. Ich fahre mit dem Fahrzeug meiner Frau meinem eigenen Auto hinterher. Es ist ein selbstfahrendes Auto und soll einen Parkplatz finden. Das Auto biegt von der Hauptstraße nach rechts ab, stoppt kurz, fährt weiter. Biegt dann in die nächste Seitenstraße links ein, wird langsamer, kommt plötzlich zurück. Wobei es jedoch rückwärts fährt und zudem so schnell, dass ich scharf abbremsen muss, um keine Delle in mein eigenes Auto zu rammen.

Wieder auf der Hauptstraße legt es an Tempo noch mehr zu, weshalb ich ihm kaum noch folgen kann. Deshalb beschleunige ich ebenfalls stark, während ich meiner Frau zurufe, dass ich umgehend aussteigen und mein Auto einfangen werde. Denn es agiert wie ein wild gewordenes Pferd. Andernfalls könnte die Suche nach einem Parkplatz fürchterlich enden. Doch an der nächsten Kurve verliere ich mein Auto endgültig aus den Augen.

Blaue Linien sind eigentlich harmlos, in Prag aber oft ein Problem.

Dann wache ich auf, wechsele das schweißnasse T-Shirt, gehe an das nächstgelegene Fenster – und blicke auf die Straßen von Prag 4. Dort sehe ich seit November nur noch blau – und damit reichlich schwarz für meine Zukunft im Viertel. Denn an den Rand jedes Bürgersteigs hat die Verwaltung von Prag 4 einen blauen Streifen auf die Fahrbahn malen lassen. Womit signalisiert wird, dass hier nicht mehr kostenlos geparkt werden darf. Außer man hat einen Anwohnerausweis bei eben jener Verwaltung käuflich erworben. Was nicht einfach ist, um es gleich vorwegzunehmen.

Selbst der reicht aber nicht aus, wenn man sein Fahrzeug künftig noch in der Hauptstraße abstellen will. Dort weisen Schilder nämlich jetzt Kurzparkzonen aus. Automaten für die dafür nötigen Parkscheine stehen verstreut daneben. In diesem Moment fällt mir ein, dass es viel Sinn haben würde, ein Hersteller von blauer Farbe zu sein – um sie an die Verwaltung von Prag 4 und weitere interessierte Bezirke der Hauptstadt zu verkaufen. Und dazu Schilder zu produzieren, die auf Parkflächen hinweisen. Wenn man dann auch noch Parkscheinautomaten fabrizieren würde, hätte man alles in einer Hand, was ehrbare Autofahrer an den Rande des Wahnsinns treibt – und zugleich den Grundstein für seine erste Million gelegt.

Vorrangig stellt sich nun jedoch eine andere Frage: Kann man künftig überhaupt noch länger in Prag 4 bleiben, auch wenn man hier nicht dauerhaft wohnt? Zum Beispiel für eine Woche. Oder für einen Monat. Die Verwaltung geht allem Anschein nach nur von zwei Möglichkeiten aus: Man liebt Prag 4 dermaßen, dass man immer hier leben möchte. Oder man geht zu keiner Zeit dorthin. Zumindest nicht länger als nötig. Also nur so lange, wie jemand in den neuen Kurzparkzonen verweilen darf. Weshalb Prag 4 für Geschäftsleute künftig ebenso eine „Terra incognita“ sein wird wie für Touristen, Ausländer und sogar für Tschechen, die nicht in Prag 4 wohnen.

Oder es ist den Verwaltern schlicht und einfach egal. Womit sie sich ein Vorbild an ihren Kollegen in Prag 3 nehmen würden, die (wie fast alle zentrumsnahen Bezirke) ebenfalls Parkbezahlpflicht verordnet haben, ohne Rücksicht auf Verluste. Diesen Eindruck gewann jedenfalls ein Freund, der schon lange in Žižkov lebt und die gleichen Erfahrungen gemacht hat. Wenn er Besuch bekommt, schickt er ihn zwecks Parkgelegenheit mittlerweile zum Güterbahnhof von Žižkov. Oder gleich nach Prag 10.

„Blaue Zonen“ bleiben tagsüber oft leer. | © ŠJů, CC BY 4.0

Was kann man tun, um diese Ignoranz der Verwaltung zu besiegen? Natürlich zunächst nach den letzten blaufreien Parklücken suchen. Dafür umrunde ich in Braník, einem Teil von Prag 4, anfangs alle Straßen an meiner Wohnung, erweitere dann den Radius auf die dahinterliegenden Fahrbahnen und erreiche schließlich die Moldau. Dort entdecke ich ein hohes Firmengebäude mit zahlreichen Parkplätzen, die jedoch ausschließlich von eigenen Mitarbeitern genutzt werden dürfen. Daraufhin hetze ich dem Sirenengeheul eines Rettungsfahrzeuges nach, logischerweise in umgekehrter Richtung, was mich wie erhofft an die Station einer Hilfsorganisation führt. Ja, es gibt dort tatsächlich noch Stellplätze ohne Blau, die indes – und zu Recht – ausschließlich für die Autos der helfenden Hände reserviert sind.

Auf der andere Seite liegt eine Anhöhe, die Fußballfans auf das abgelegene Sportgelände von ABC Braník bringt. Sie verläuft zunehmend steiler, stellte aber trotzdem kein Problem für den Blaustreifen-Maler dar. Den Weg hinüber zum berühmten Felsen von Braník spare ich mir, denn dort sind sehr viele Häuser und damit nun auch unweigerlich viel blaue Farbe.

Kurz darauf stehe ich vor einer Tram-Haltestelle und denke kurz darüber nach, wie weit ich schon von meiner Wohnung entfernt bin. Vier Kilometer? Oder erst drei? In jedem Fall zu weit, um das Gepäck quer durch die Straßen von Braník zu schleppen. Am Ortsrand gegenüber, wo fast schon keine Häuser mehr erbaut wurden, finde ich eine kleine Fabrik, deren Angestellte ihre Autos einfach in den Wiesen rundum abstellen. Da könnte noch ein kleines Plätzchen für mein kleines Auto frei sein, zur Not gegen eine kleine Mietgebühr. Doch den Chef kann ich nicht mehr danach fragen, denn es ist Freitag und längst später Nachmittag. Da ist er schon außer Haus.

Hinweis an einem Auto mit Parkkralle | © ŠJů, CC BY-SA 3.0

Ein Ortsbewohner, der meine verzweifelten Blicke beobachtet hat, fragt nach. Ich erläutere ihm meine Befürchtung, bald ein teuer zahlender Stammgast in der Verwaltung von Prag 4 zu sein, um all die Parkkrallen an meinem Fahrzeug wegen Falschparken beseitigen zu lassen. Er zeigt großes Verständnis und versorgt mich mit ein paar nützlichen Hinweisen. So soll ein Hotel eingezäunte und bewachte Stellplätze vermieten, selbst wenn man dort kein Zimmer gebucht hat. Der Preis richte sich nach der Saison. Außerdem gebe es einen bewachten und von einem Zaun umgebenen „Bezahlparkplatz“ an der Moldau, mit Fixpreisen.

Dies erinnert mich stark an Prag 5. Dort konnte ich weit über ein Jahrzehnt lang gemütlich auf einer steilen Seitenstraße an der Plzeňská parken, gleich neben einer verfallenen alten Druckerei aus kommunistischer Zeit – bis für die steile Auffahrt ebenfalls Anwohnerscheine ausgegeben wurden. Angestellte eines Hotels gegenüber erzählten mir, dass seitdem Kontrollfahrzeuge in der Plzeňská patrouillieren und mit Radar überprüfen, ob sich noch jemand erdreistet, ohne Erlaubnis in dieser Seitenstraße zu parken.

Im Gegenzug wurde das Fabrikgebäude abgerissen. Es muss sicher neuen teuren Lofts weichen, von denen schon welche ein paar Schritte weiter in dem Gebiet erbaut wurden. Deshalb stiegen die Preise für das eingezäunte große Parkgelände am ein paar hundert Meter entfernten Schwarzenberg-Platz unverzüglich um das Doppelte. Ein direkt in der Plzeňská eröffneter Parkplatz war vom ersten Tag an unbezahlbar. Angeblich ist er bewacht. Als ich vorbeilief, war oft keiner da. Die Absperrung bestand aus einem dünnen Seil und ließ jedem potenziellen Autodieb das Herz aufgehen.

Prag hat ein Parkproblem. | © APZ

Also doch weiterhin Prag 4. Nur: mit welcher Lösung? Ideal wäre ein Anwohner-Parkausweis. Er soll nur 1.200 Kronen kosten, wie man aus Prag 3 hört, also noch nicht mal 50 Euro – fürs ganze Jahr. Den könnte mein Vermieter für mich besorgen. Er besitzt beste Voraussetzungen: ordnungsgemäß als Bewohner bei der Verwaltung von Prag 4 gemeldet, zudem selbst ohne Auto und mithin nicht auf einen Parkplatz angewiesen.

Schon taucht das nächste Problem auf. Mein Freund in Prag 3 hat am eigenen Leib erfahren, dass der Name des Anwohners mit dem Namen im Fahrzeugschein (des anzumeldenden Autos) identisch sein muss. Was für ein Blödsinn! Theoretisch könnte mein Vermieter ja ein Fahrzeug gemeinsam mit einer Lebenspartnerin nutzen, die zwar ständig bei ihm zu Gast ist, aber (noch) nicht in Prag 4 wohnt. Deshalb fällt auch die Idee flach, einen Anwohner-Ausweis mit meinem Nachbarn links gegenüber zu teilen, der ebenfalls kein Fahrzeug unterhält, aber regelmäßig von seiner Mutter besucht wird.

Leider besitzt mein Vermieter keine Garage oder ein freies Feld. So bleibt als letzte Rettung, dass er jemanden kennt, der so etwas hat und für ein paar Tage an mich vermietet. Ansonsten eben wieder Flix- oder Bahnbus für die Fahrt nach Prag – was Freiheit und Zeit raubt und genaue Überlegungen bezüglich des Gepäcks erfordert, wenn man mehrere Wochen in Prag 4 bleiben will.

Auf dem Weg in meine Stammpizzeria entdecke ich überraschend drei, vielleicht gar vier Parkplätze in einem sehr schmalen und dunklen Seitenweg, die der Blau-Mann anscheinend vergessen hat. Rettung im letzten Moment, vorausgesetzt, man erwischt den richtigen Zeitpunkt vor allen anderen.

Parkzone für Anwohner am Wenzelsplatz (Štěpánská) | © APZ

Doch schon werde ich wieder aus Prag 3 ausgebremst. Selbst wo nicht blau ist, gilt blau, schiebt der Freund von dort nach. Ein Polizist hat ihn entsprechend belehrt, als er ebenfalls eine freie Lücke ausgemacht hatte – und als einziger einen Strafzettel bekam. Dass nur er als Ausländer einen erhielt und kein einziger Einheimischer, erboste ihn zutiefst. Vollkommen zu Recht, befand der Ordnungshüter – und hängte auch allen anderen eine entsprechende Anzeige an die Windschutzscheiben.

Damit hat es keinen Sinn, dass ich zu nächtlicher Stunde die blaue Farbe zumindest rund um mein Haus von der Straße kratze, um dadurch einer Strafe zu entgehen. Nicht als Sabotage, sondern als Akt von zivilem Widerstand beziehungsweise Ungehorsam. Es wundert mich sowieso, dass meine tschechischen Mitbewohner die Zwangsverfärbung ihres Wohngebiets so still und leise hinnehmen. Ein Nachbar, mit dem ich am nächsten Tag die Problematik im Viertel erörtere – sinnvollerweise direkt an einem blauen Streifen vor dem Haus – winkt resignierend ab. Dann reibt er Daumen und Zeigefinger aneinander. „Reine Geldmacherei der Verwaltung“, sagt er, hörbar verärgert, „die kriegen den Hals einfach nicht voll!“

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