Zeitlose Zeilen
Noch immer wird über Josef Svátek heftig diskutiert – obwohl er vor 185 Jahren geboren wurde
24. 2. 2020 - Text: Klaus Hanisch, Titelbild: Kreuze für die im Juni 1621 hingerichteten Protestantenführer auf dem Altstädter Ring (© Muchachica, CC BY-NC-SA 2.0)
Erst zu Weihnachten 2019 lobte ein gewisser Maurice die „Memoiren eines Prager Henkers“ von Josef Svátek im Internet: „Die erwähnten Personen sind alle real und daher nicht nur unterhaltsam, sondern auch ein historisches Dokument.“ Auch Jeff fand wenige Wochen vorher, dass dieses Buch eine tolle Möglichkeit sei, die Geschichte von Böhmen und Europa im 17. Jahrhundert kennenzulernen. Bis dahin wusste er „wenig über Prag, außer was ich über die Tschechoslowakei im Kommunismus wusste“.
Ja, ein „faszinierendes“ Werk, stellte Danessa schon im Mai 2015 fest. Sie war am Thema selbst zuvor überhaupt nicht interessiert, doch nun zählte sie Sváteks Schrift zu den „drei besten Büchern, die ich je gelesen habe“. Und kurz darauf, im Juli 2015, gab Ryan dem Werk „aus historischer Sicht ein A++“.
Durchaus erstaunlich, diese vielen Lobeshymnen auf Josef Svátek. Denn der Tscheche wurde am 24. Februar 1835 in Prag geboren, also schon vor genau 185 Jahren. Und er starb dort noch vor Ende seines Jahrhunderts, im Dezember 1897. Zwischen jenen Jahren schrieb Svátek viel. Über nichts lassen sich Leser jedoch so heftig im Netz aus wie über die englische Übersetzung eben jener „Memoiren“. In dem erfolgreichsten Buch von Svátek geht es um einen jungen Mann, der Medizin studierte, dann aber in einen Beruf gedrängt wird, der Leben nicht rettet, sondern vernichtet: Jan Mydlář wird zum bekanntesten Henker Böhmens.
Und er agiert zu einer Zeit, als sich im Land Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung abspielen. Die religiösen und politischen Turbulenzen während des Dreißigjährigen Krieges münden 1620 in die Schlacht am Weißen Berg. Nachdem böhmische Protestanten dort von katholischen Streitkräften besiegt wurden, sollen ein halbes Jahr später 27 Aufständische hingerichtet werden – von eben jenem Altstadt-Henker.
Kristin vermutete im Juli 2014 im Internet, dass es sich dabei um „echte Memoiren“ handeln würde und „keine historische Fiktion“. Deshalb fand sie das Buch „zwar okay“, aber trotzdem „nicht das, was ich erwartet hatte“. Die Erinnerungen dieses Henkers seien eine „historische Novelle, die auf tatsächlichen Ereignissen“ basiere, klärte der Verlag zur Neuauflage von 2004 auf. Gleichzeitig lobte er selbst den Autor für eine „faszinierende Darstellung der Sitten und Werte der spätmittelalterlichen Gesellschaft“. Doch dafür erntet Josef Svátek heutzutage nicht nur positive Stimmen.
Ein Leser stellte im Mai 2013 fest, dass er zwar „Tonnen von interessanten Details“ biete und „den Wechsel von Rudolf II. zu völliger religiöser Intoleranz auf sehr objektive – ja wissenschaftliche – Weise“ beschreibe. Trotzdem sei es keine großartige Arbeit. „Die Übersetzung (und/oder Anpassung der Dokumente in die Umgangssprache)“ hatte diesen Leser „irgendwie umgehauen“ – ganz besonders eine Gruppe von Kriminellen, die „wie Alabama Rednecks“ sprechen würden, also wie arme weiße Landarbeiter in den Südstaaten der USA.
„Dieses Buch könnte so viel besser sein“, urteilte auch Autumn. Sie vermisste „Überraschungen“, es gebe „keinen Konflikt“. Stattdessen bewege sich der Protagonist durch sein Leben wie „in einem Videospiel mit Cheat Codes“. Mit solchen Codes können Computerspiele beeinflusst werden, um schwere Spielabschnitte und Levels zu überspringen oder Spieler aufzubauen.
Zudem störte sie, dass sich das Werk „wie ein Kinderbuch“ lese, „Feinheiten der Arbeit eines Henkers beschönigt, um das Hängen nach dem Hängen und ein Enthaupten nach dem anderen zu wiederholen“. Dies ist auch für etliche andere Leser der entscheidende Kritikpunkt. „Die Folter ist möglicherweise schwer zu ertragen“ für manchen Leser, da sie „sehr detailliert und (leider) genau ist“, gab Ryan zu bedenken. Wer eine schwache Konstitution habe, solle sich daher auf jeden Fall „die Qual des Googelns der verschiedenen Foltergeräte“ sparen, die erwähnt und verwendet werden.
Selbst der Verlag warnte vorab vor grafischen Beschreibungen von mittelalterlicher Folter im Werk. „Nichts für schwache Nerven“, bestätigte Jane im Mai 2008. Sie war durch den großen Milan Kundera auf tschechische Schriftsteller und damit auch auf Svátek aufmerksam geworden. „Ich habe das nicht beendet“, bekannte Keith im August 2016. Er hatte es schlicht und einfach „satt zu lesen, wie viele Menschen man verschieden töten und foltern konnte“. Und die Tschechin Pavlína bemerkte im April 2016 lakonisch, sie habe dieses Buch nur deshalb zu Ende gelesen, weil sie aus Prinzip kein neues anfange, bevor sie ein begonnenes abgeschlossen habe.
Josef Svátek stammte aus einer Prager Bürgerfamilie und besuchte nach dem Realgymnasium die Technische Hochschule seiner Heimatstadt. Nach dem Ende des Studiums entschloss er sich jedoch dazu, lieber als Journalist und Buchautor sein Geld zu verdienen. Svátek stöberte oft in Archiven nach historischem Stoff, den er gerne in seinen Werken verwendete. Besonders die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert hatte es ihm angetan. So auch in seinem historischen Roman über die „Schweden in Prag“ (Švédové v Praze, 1874). Darin beschreibe Svátek den Widerstand „der heldenhaften Prager“ gegen die schwedischen Belagerer unter General Königsmarck und damit „eine der dramatischsten Perioden der tschechischen Geschichte“, wie der Verlag hinausposaunt, der dieses Werk 2008 erneut publizierte.
Aufgrund seiner Recherchen reicherte Svátek seine Arbeiten mit historischen und kulturellen Details an. Nicht immer seien die Quellen indes eindeutig belegt, wird zuweilen kritisiert. Tschechische Bibliotheken zählen Josef Svátek heute zu den wichtigsten Schriftstellern historischer Prosa in der tschechischen Literatur – gemeinsam mit Václav Beneš Třebízský, Alois Jirásek und Zikmund Winter. Während seine dramatischen Werke wenig Erfolg hatten, wurden seine zahlreichen Romane und Erzählungen schon zu seiner Zeit viel gelesen. Nachdem die Memoiren des Prager Henkers im Jahr 2004 noch einmal erschienen waren, häuften sich jedoch Stimmen, die auf mangelnde Sorgfalt bei der Edition hinwiesen. Das Buch müsse „aufgeräumt“ werden und „hätte von guter Bearbeitung profitiert“, notierte eine gewisse Patricia. Einfach nur „Korrekturlesen“, empfahl auch Elgyn im Oktober 2016. Er machte sich sogar die Mühe, die Seiten des tschechischen Originals zu überprüfen, um daraufhin Fehler für Fehler aufzulisten.
Allerdings wird dem Autor sehr oft auch attestiert, großartig recherchiert und Hintergrundinformationen geliefert zu haben. Kein Wunder, schließlich widmete sich Josef Svátek intensiv dem Journalismus, schrieb zunächst für „Hlas“ und „Pražské noviny“ und war viele Jahre lang Redakteur von „Pražský deník“. Dazwischen leitete er ab 1866 für ein Jahr die „Prager Zeitung“.
Aus Sváteks Arbeit für diese Zeitung resultierte ein weiteres Buch: „Culturhistorische Bilder aus Böhmen“, 1879 im Verlag Wilhelm Braumüller in Wien erschienen. Dabei handelte es sich um „Gesammelte Beiträge aus der Prager Zeitung zur Geschichte und Kultur der böhmischen Länder“, wie im Untertitel vermerkt wurde. Auf 310 Seiten ging es im Original um die „Geschichte der Hexenprozesse in Böhmen“, ebenso um „Böhmen und die Alchemie“, „Adamiten und Deisten in Böhmen“, „Die Guillotine in Böhmen“ oder „Bauern-Rebellionen in Böhmen“. Außerdem um „Schiller in Böhmen“, die „Rudolfinsche Kunstkammer in Prag“ und „Zigeuner in Böhmen“.
Das Werk hat ein Hamburger Verlag vor vier Jahren sinnvollerweise als angeblich „unveränderten hochwertigen Nachdruck der Originalausgabe“ erneut aufgelegt. Allerdings waren Mitarbeiter des Unternehmens in den vergangenen Wochen trotz vielfacher Versuche weder telefonisch noch schriftlich zu erreichen, um Näheres über das Projekt zu erfahren. Ziemlich überraschend, da Verlage in der Regel offensiv die Öffentlichkeit suchen, weil sie davon leben, möglichst viele Bücher zu verkaufen. Trotzdem könnte dieses Buch auch heute noch eine spannende Lektüre sein – wenngleich lange nicht so viel diskutiert und umstritten wie die Henker-Schrift aus der Feder von Josef Svátek.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ