An der Blutigen Straße
Zu Besuch in Tachau (Tachov), wo die Kreuzritter zu Hasenfüßlern wurden
28. 2. 2020 - Text: Jiří Peňás, Übersetzung: Josef Füllenbach, Titelbild: Klaus Schicker, Schicker-allmedia.de, CC BY 4.0 (Geschichtspark Bärnau-Tachov)
Informationen zum Autor und der Serie „Genius loci“
Am frühen Abend kam ich von Plan (Planá; zum Artikel) nach Tachau (Tachov), stieg aus dem Bus aus und wäre fast hingefallen, denn die Stadt steht zum großen Teil auf einer schiefen Ebene. Im Verein schräger Städte würde Tachau sicher eine führende Rolle spielen. Das ist das Erste, was dem Zuwanderer auffällt, das Zweite ist die Frage, was er hier überhaupt zu suchen hat. Hier, am Rande von Böhmen, in der entvölkerten Einöde, in der Region der Kolkraben und Werwölfe, der erlogenen hussitischen Traditionen, der Asia-Märkte und gottverlassener Nester nach Entseuchungen, Zerstörungen und Abriss, wovon die Stadt fast vernichtet wurde. Tachau, die traurigste Stadt Böhmens, so dachte er einmal, und ein wenig auch noch heute.
Doch zum Glück vergeht ihm das rasch. Bereits als er sich am Abend auf dem schrägen Platz der Republik (früher Marktplatz, dann auch Adolf-Hitler-Platz) an den Brunnen setzt und hinüber zur gotischen Kirche schaut, einer der schönsten in diesem Teil Böhmens, und dabei ihre Silhouette zusammen mit den Umrissen der Schanzmauer der mittelalterlichen Stadtbefestigung wahrnimmt, sagt er sich: Das ist hier nicht so aussichtslos, eigentlich ganz romantisch, einschließlich dieses sich einschleichenden Gefühls der Einsamkeit, der Verlassenheit, dieses Drucks der Grenznähe, das freilich auch bloß die Autosuggestion eines Menschen sein kann, der dauernd daran zurückdenkt, wie es früher einmal war. Und das sollte er nicht.
Am nächsten Tag wirkte die Stadt noch anziehender. Zwar kannten sie im Hotel Garni, wo ich übernachtet hatte, kein Frühstück, doch war es in einer Konditorei in der Hussitenstraße, die in die Blutige Straße übergeht, möglich, sich zu einem Kaffee und zu etwas, das an einen Croissant erinnerte, zu setzen. Eigentlich begann es mir dort zu gefallen. An diesem Tag gab es in der Schule Zeugnisse, die Schüler waren festlich gekleidet, von den Müttern begleitet, viele Roma-Mädchen mit Schleifen im Haar, ihre Mütter in Leggins und mit Fingernägeln wie Drachenklauen. Sie bestellten sich Cremerollen und rauchten Zigaretten, meine gespitzten Ohren hörten gelegentlich Ukrainisch oder eine andere Sprache des neuen Proletariats. Auch mein Hotel diente eher der Unterkunft von Arbeitern aus den Montagewerkstätten in der Umgebung mit Fließbandproduktion, für die Tschechen schon nicht mehr zu gewinnen sind.
Die Sonne brannte mit aller apokalyptischen Leidenschaftlichkeit auf die abschüssige Stadt, in der ich bislang nur einmal im Leben gewesen bin, vor langer Zeit auf einem Schulausflug. Unsere Genossin Lehrerin war vermutlich eine große Anhängerin des Hussitismus, und deshalb sind wir in das Tachauer Museum gegangen, das in einem ehemaligen Franziskanerkloster untergebracht ist. Dort ging ich auch diesmal hin mich umzuschauen, und gleich mit meiner ersten Frage habe ich einige Museumsangestellten in Verlegenheit gebracht, denn ich fragte nach dem Bild „Die Hussiten“ des Malers Vladimír V. Modrý.
Dieses Bild hatte ich damals Ende der 1970er Jahre als Schüler gesehen und ich entsinne mich noch an die Erläuterungen eines hiesigen Historikers, eines kleinen, bärtigen Mannes, der uns erklärte, dieser Haufen von irre dreinblickenden Verrückten und zahnlosen Banditen seien, jawohl, unsere geliebten Hussiten, allerdings realistisch aufgefasst, nämlich so, wie sie möglicherweise wirklich aussahen. Man muss sich ja nur einmal vor Augen halten, dass sie schon fast zehn Jahre lang Krieg führten, durchs Land zogen, plünderten, brandschatzten und als Mordbrenner wüteten, da wundert es einen nicht, dass die Kreuzfahrer bei ihrem Anblick die Beine unter die Arme klemmten und Reißaus nahmen. Und genau so hatte der Maler sie dargestellt, und wie ich mich noch deutlich erinnerte, sahen sie in der Tat nicht so aus wie die selbstbewussten Mannequins von Vávra [Otakar Vávra (1911-2011) war ein tschechischer Filmemacher, zu dessen bekanntesten Werken eine Trilogie über die Hussiten gehört; Anm. PZ].
Erst nach vielen Jahren habe ich erfahren, wer das Bild gemalt hatte. Ich sah es wieder im Jahre 2004 in einer Ausstellung in der Reitschule des Wallenstein-Palais. Organisiert hatte sie Milan Knížák, der Modrý (1907-1976) noch persönlich kannte und ihn als einen Solitär und – wie auch die Ausstellung benannt war – „Pilsner Don Quichotte“ wertschätzte. Das Bild entstand schon in den 1950er Jahren, als Modrý in Tachau lebte. Tatsächlich erfüllte es nicht die kanonischen Vorgaben des Sozialismus, doch im Tachauer Museum durfte es erstaunlicherweise hängen, und ich war als ein begeisterter Leser von Büchern über die Hussiten dort darauf gestoßen.
Als ich nun die guten Frauen nach dem Bild fragte, erinnerten sie sich nur dunkel daran, dass sie dort irgendwann einmal so etwas hatten. Dann riefen sie die Direktorin an, die ihnen sagte, das Bild habe der Westböhmischen Galerie gehört und dass sie es dort wohl noch hätten. Hier jedoch, in Tachau, sei eine ganze Reihe von Bildern von Vladimír Modrý zu sehen, zum Beispiel in der Volksschule der Kunst, wo Modrý wirkte, vielleicht würden sie mich dort einlassen …
Das Museum heißt heute Muzeum Českého lesa (Museum des Böhmischen Waldes) und neben anderen Dingen halten sie dort im Aquarium eine Großfamilie von Rotbauchunken (bzw. Feuerkröten oder Bombina bombina), zu deren Ernährung es notwendig ist, Larven zu halten, aus denen jedoch manchmal Fliegen schlüpfen, die die Museumswächter dann im ganzen Museum mit Netzen fangen müssen … (Man muss nicht alles glauben, aber die Frösche haben sie dort wirklich.)
Doch das (pseudo)hussitische Tachau verlassen wollte ich nun auch nicht. Deshalb bin ich noch am Mittag in fast mörderischer Hitze auf den über der Stadt liegenden Hohenstein (Vysoká) gestiegen, wo es ein Denkmal dieser … nun ja, nicht einmal Schlacht, sondern eher des Fiaskos des dritten Kreuzzugs gibt. Dieser erlitt hier eine dermaßen schmachvolle Niederlage, dass die Kommunisten daraus noch 1987 einen ruhmvollen Sieg machen konnten, als hier im August Vasil Biľak eine Rede hielt, wie ich mich noch recht gut erinnere.
Ohne viel über diese Schlacht zu wissen, erfasste Biľak ihr Wesen darin, dass es um den Kampf der westlichen Dekadenz mit einem chiliastischen Fanatismus ging. Biľak hätte den Letzteren zweifellos gerne wiedererweckt, aber das ging schon nicht mehr. Im August 1427 brannte dieser Fanatismus jedoch noch in hellen Flammen; als die Kreuzritter nämlich mit ihren bunten Schilden, farbigen Federbüschen und Bannern bei Tachau den Haufen der störrischen Ketzer erblickten und deren dunkler Gesang zu ihnen herüberdrang, ließen sie mit einem Male ihren Kampfesmut sinken und suchten sich so schnell wie möglich aus diesem vermaledeiten Land zu retten.
Bekannt ist die Schilderung, wie der päpstliche Legat, der Engländer Henry Beaufort, genau der, der später über die Jungfrau von Orléans Gericht halten wird, vergeblich versuchte, die Söldner dazu zu bringen, sich aufzuraffen und sich den böhmischen Barbaren entgegenzustellen. Schließlich ergriff er selbst das Banner und schickte sich an, sich an die Spitze des Heeres zu stellen. Nur kam es dann zu einem Handgemenge, wer das Banner mit dem gekreuzigten Christus tragen soll, wobei es zu Boden fiel, was als schlimmes Vorzeichen galt, welches die Panik nur noch verstärkte.
Für die Hussiten war dies ein leicht errungener Sieg. Als sie vor die Tore Tachaus zogen, das bis dahin auf der Seite der Katholiken stand, hatten sie mit der Stadt nicht viel Mühe, einige Zeit rannten sie gegen die Stadtmauern an, und als diese nachgaben, drangen sie in die Stadt ein, und wer erreichbar war, kam lebend nicht davon. Das schlimmste Gemetzel fand eben dort statt, wo jetzt die Blutige Straße verläuft, die angeblich übersät war mit den Körpern von an die fünfzig Verteidigern oder einfach von denen, die das Pech hatten, nicht schnell genug davonlaufen zu können.
Seit Mitte August 1427 war Tachau in hussitischer Hand, das dritte Kreuzzugsheer verjagt und Europa wunderte sich, was sich denn da in Böhmen tut, so dass nach ein paar Jahren sogar Jeanne d’Arc den Tschechen schrieb, sie käme gerne persönlich nach Böhmen, um diese „Dummheit und den halsstarrigen Aberglauben“ der Hussiten auszurotten, wenn sie nicht mit den Kriegen gegen die Engländer alle Hände voll zu tun hätte. Aber nach einigen Jahren wiederholte sich das bei Taus (Domažlice) auf schimpfliche Weise: Dort verlor der Legat bekanntlich seinen Kardinalshut.
Das zu Beginn der Normalisierungsphase (1972) errichtete Denkmal, zu dem ich mich nun endlich hingeschleppt hatte, ist überraschenderweise geschmackvoll, gut erhalten und ideologisch nicht aggressiv. Drei weiße Betonpfeiler, der mittlere mit dem Kelch ein wenig höher, was wohl an den Schild oder den Kampfwagen der Hussiten erinnern soll, inmitten eines einfach gestalteten Platzes. Autor war der Architekt Miloslav Hrubec (geb. 1935) aus Pilsen, einer der Schöpfer des im Stil des Brutalismus errichteten Pilsner Kulturhauses, das vor ein paar Jahren abgerissen wurde.
Ich rief ihn an und fragte ihn, ob er sich noch an das Tachauer Denkmal erinnere, und er erwiderte, das sei schon lange her, aber von ihm gebe es in Tachau noch mehr, doch von dem Abriss des Kulturhauses erhole er sich nicht mehr, das sei schrecklich, was sie dort angestellt haben, jetzt bauen sie dort ein Einkaufszentrum, überall entstehen Einkaufszentren, daran ersticken die Menschen doch! Und wir verabredeten uns, dass ich bei ihm vorbeikomme, wenn ich mal in Pilsen bin. So schreibe ich das hierhin, damit ich das nicht vergesse.
Vom Hügel (564 m) hatte ich einen schönen Blick auf Tachau, über das der Reiseführer von Řivnáč [František Řivnáč, 1807-1888, tschechischer Buchhändler und Verleger, brachte u.a. einen Führer durch Böhmen / Průvodce po Čechách heraus (1882); Anm. PZ] schreibt, dies „ist eine Stadt mit 4400 deutschen Einwohnern“ und sie „ist Sitz der Kreishauptmannschaft und des Kreisgerichts sowie Sitz des Großpriors des Ordens der Kreuzherren mit dem Roten Stern“. Und weiter heißt es dort, dass es „hier eine Fachschule für Drechsler, ferner eine Fabrik zur Herstellung von Knöpfen aus Knochen, Hörnern und Geweihen, und eine Brauerei gibt. In der Umgebung werden viele Gefäße und Werkzeuge aus Holz gefertigt, außerdem befinden sich nicht weit von der Stadt einige Glashütten und –schleifereien und eine Stunde Wegs von der Stadt eine Fabrik für Schuhleisten“.
Ich bin dann tapfer auf den stählernen Aussichtsturm in der Nähe hinaufgestiegen (28,7 m hoch, 144 Stufen) und habe mir die Landschaft ringsum angeschaut. Die Leistenfabrik habe ich nicht entdeckt, vielleicht sind die Kunden verschwunden. So wie die Kreuzritter beim Anblick der Hussiten.
Ich bin wieder heruntergestiegen und in Richtung Heiligen (Světce) gegangen. Dazu, ebenso wie zum Stadtschloss und zur Familie Windischgrätz kommen wir vielleicht beim nächsten Mal.
Der Artikel ist im Original unter dem Titel „Boží kopyta pro Tachov. Ve městě, které začíná Krvavou Uličkou“ in der Ausgabe 31 vom 1. August 2019 der Wochenzeitschrift „Echo“ erschienen.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ