„Mein Lebenstraum wurde zerstört“
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„Mein Lebenstraum wurde zerstört“

Vor 40 Jahren durfte Guido Kratschmer, dessen Vater aus dem östlichen Böhmen stammt, nicht zu den Olympischen Spielen – und blieb deshalb ohne Gold

23. 7. 2020 - Interview: Aleš Krupa, Klaus Hanisch

PZ: Morgen sollten die Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio beginnen. Sie galten für die Spiele 1980 als Favorit auf die Goldmedaille im Zehnkampf. Doch die Bundesrepublik boykottierte Olympia in Moskau. Daher können Sie sicher gut erklären, wie sich deutsche und tschechische Olympia-Teilnehmer in diesen Tagen fühlen.
Guido Kratschmer: Ich war damals am Boden zerstört und wusste überhaupt nicht, was genau los war und wie ich mich verhalten sollte. Es dauerte Tage, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Allerdings kann man heute nicht völlig mit damals vergleichen. 1980 waren ja nicht alle Athleten betroffen, sondern nur Sportler aus jenen Staaten, die Olympia in Moskau boykottierten. Diesmal trifft die Pandemie alle Athleten gleichermaßen.

Zu dem Boykott hatten die USA wegen der Invasion der UdSSR in Afghanistan aufgerufen. Neben der Bundesrepublik schlossen sich auch viele andere westliche Staaten an. Wie haben Sie sich nach dieser Absage wiederaufgebaut?
Ich setzte mir ein neues Ziel, nämlich einen neuen Weltrekord. Das habe ich auch geschafft und es hat mich zunächst aufgebaut. Doch dann fiel ich gleich ins nächste Loch, denn mein Zeitplan für 1980 sah vor, nach dem Wettkampf in Götzis zu Olympia zu fahren und dort die Goldmedaille zu gewinnen. Es hat sehr sehr lange gedauert, bis ich das alles verarbeitet hatte.

Guido Kratschmer (1981) | © Diane Krauss, CC BY-SA 3.0

Sie waren zwar in Moskau der Favorit, doch in einem Zehnkampf kann viel passieren. Wobei man sofort an das Beispiel von Jürgen Hingsen denkt, der bei Olympia in Seoul 1988 gleich während der ersten Disziplin, dem 100-Meter-Lauf, nach drei Fehlstarts disqualifiziert wurde. Warum waren Sie so sicher, Gold zu gewinnen?
Ich hatte schon Silber bei Olympia 1976 gewonnen. Ab 1977 habe ich mich ganz gezielt auf die Olympischen Spiele in Moskau vorbereitet, mit dem klaren Ziel Goldmedaille. Und es gab damals auch keinen wirklichen Gegner für mich, außer Daley Thompson. Aber er war jünger als ich. Zudem war ich psychisch sehr stark und ihm diesbezüglich auch überlegen. Mit mir hätte er jedenfalls keine Spielchen machen können wie mit anderen Gegnern – und das wusste er auch! Deshalb war ich mir sicher, dass ich gewinnen würde.

Allerdings galt Daley Thompson als großartiger Wettkämpfer. Das bewies er nachdrücklich mit seinen Goldmedaillen bei Olympia 1980 und 1984 sowie dem WM-Sieg von 1983 und EM-Gold von 1982 und 1986. Zudem hatte er vor Moskau gerade den Zehnkampf bei den Commonwealth-Spielen gewonnen. War er 1980 nicht schon ein übermächtiger Gegner?
Er war ein Gegner auf Augenhöhe und die Entscheidung in Moskau wäre nur zwischen uns beiden gefallen. Das war vollkommen klar. Aber ich hatte mich gut darauf vorbereitet, war immer besonders stark im 1.500 Meter-Lauf, wenn es darauf ankam. In dieser letzten Disziplin hätte ich sicher mit ihm mithalten oder ihm sogar noch ein paar Punkte abnehmen können, wenn es nötig gewesen wäre. Ich war überzeugt davon, dass ich ihn geschlagen hätte.

Sie fuhren trotzdem nach Moskau und beobachteten den Zehnkampf auf der Tribüne, als Berichterstatter für ein Magazin. War das nicht unerträglich für Sie?
Die erste Disziplin auf alle Fälle, der 100-Meter-Lauf. Danach habe ich mich beruhigt. Es war ja klar, dass Thompson keine echten Gegner haben würde und seinen Zehnkampf erfolgreich durchzieht, wenn er sich nicht zwischendurch verletzt.

Sie hielten auf Ihrem Sitz in Moskau tatsächlich bis zur letzten Disziplin durch?
Es war ja trotzdem ganz interessant, die Disziplinen zu beobachten. Heute habe ich diesen Zehnkampf nicht mehr sehr in Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass ich beim 100-Meter-Lauf sehr nervös war – und auch traurig. Den Rest habe ich ohne große Anteilnahme verfolgt.

Ein Leichtathletik-Onlineportal schrieb, Ihre Pechsträhne habe gleichsam schon bei der EM 1978 in Prag begonnen. Dort zogen Sie sich beim 100-Meter-Lauf eine Adduktoren-Verletzung zu und mussten den Wettkampf gleich nach der ersten Disziplin beenden. Sehen Sie es ähnlich?
Nein, denn Prag war ein Fehler von mir. Ich hatte mich vor dem Wettkampf verletzt und das nicht ernst genug genommen. Das war ärgerlich, hat mich aber nicht aus der Bahn geworfen. Vor Moskau wusste ich, dass ich vorsichtig sein muss.

Sie wurden im fränkischen Großheubach geboren, doch ihr Vater stammt aus Sichelsdorf, heute Žichlínek, mit knapp 1.000 Einwohnern. Haben Sie etwas von ihm übernommen?
Wir haben einen Teil der Küche von dort übernommen. Ich erinnere mich vor allem an Apfelstrudel und Zwetschgenknödel, weil ich die immer besonders gerne gegessen habe. Dazu kommt eine gewisse Sturheit, die mein Vater hatte – und ich auch.

Blick auf Sichelsdorf / Žichlínek (um 1945) | © APZ

Hat Ihnen Ihr Vater von der Zeit früher erzählt?
Eher wenig. Und ich hatte auch kein großes Interesse daran. Aber ich bin in den Heimatort meines Vaters gefahren, gemeinsam mit meinem Bruder, nachdem ich bei der EM in Prag ausgeschieden war. Wir haben uns angeguckt, wo er aufgewachsen ist und welcher Hof ihm damals gehörte.

Damals, 1978, herrschte tiefster Kommunismus in der Tschechoslowakei. Wie wurden Sie dort aufgenommen und welchen Eindruck nahmen Sie mit nach Hause?
Ich hatte einen Bekannten dort, der nach dem Krieg geblieben war und Tschechisch konnte. Wir trafen ihn und suchten gemeinsam den Hof auf. Bei den Bewohnern stießen wir anfangs auf eine gewisse Ablehnung, aber wir duften rein und die Leute waren dann sehr sympathisch. Wir haben uns auch das nahe Lanškroun angeguckt.

In Lanškroun wurde Roman Šebrle geboren, die tschechische Zehnkampf-Legende mit Gold bei Olympia 2004, der WM 2007 und den Europameisterschaften 2002 und 2006. Er war zudem der erste Zehnkämpfer, der 2001 bei seinem Weltrekord die 9000-Punkte-Marke übertraf. Hatten Sie mal Kontakt zu ihm?
Ich hatte gelesen, dass er von dort kommt und habe ihn tatsächlich mal darauf angesprochen, dass auch mein Vater ganz in der Nähe aufgewachsen ist. Roman hatte seine großen Erfolge in den 2000er Jahren, also mehr als ein Jahrzehnt nach mir. Aber er hat mich noch gekannt.

Roman Šebrle nach dem WM-Sieg 2007 in Osaka | © limojoe, CC BY 3.0

Vor ein paar Jahren sprachen Sie davon, dass Sie der Verlust der möglichen Goldmedaille noch immer sehr schmerzt. Haben Sie dieses Trauma mittlerweile überwunden?
Ja, es ist einigermaßen überwunden. Aber wenn Sie mich nun darauf ansprechen, kommt die Enttäuschung gleich wieder hoch, wenn auch nicht mehr so emotional wie früher. Ich habe gut und gerne 25 Jahre gebraucht, bis sich die Emotionen darüber ein bisschen gelegt hatten.

War der neue Weltrekord im Zehnkampf, den Sie kurz nach dem Boykott-Beschluss in Bernhausen mit 8.649 Punkten aufstellten, quasi eine Trotzreaktion?
Mir blieb ja nichts anderes übrig … Ich hatte mich jahrelang auf diesen großen Wettkampf bei Olympia in Moskau vorbereitet. Nun konnte ich nicht teilnehmen und musste mich irgendwie beweisen. Wenn ich diesen Weltrekord damals nicht gemacht hätte, wäre es für mich noch bitterer gewesen. Ein Glück, dass ich ihn geschafft habe und dass damals alles gepasst hat – auch das Wetter, was für einen Zehnkampf nicht unwichtig ist.

Am Jahresende 1980 wurden Sie zudem zu „Deutschlands Sportler des Jahres“ gewählt, später überreichte Ihnen der Bundespräsident das Silberne Lorbeerblatt für Ihre sportlichen Leistungen. Waren all diese Erfolge nicht doch mehr als ein Trost für das entgangene Gold von Moskau?
Ja und nein. Es war ein Trost, Sportler des Jahres zu sein. Doch die Goldmedaille war mein Lebensziel, mein ganz großer Traum – und die konnte ich nur in Moskau gewinnen. 1976 war ich noch zu jung dafür, doch in Moskau wäre ich auf dem Zenit meines Leistungsvermögens gewesen. 1984 in Los Angeles war ich schon wieder zu alt.

Olympia-Gelände in Atlanta | © Bryan Turner

Tatsächlich kamen Sie bei großen Wettkämpfen in den 1980er Jahren nicht mehr in Medaillennähe, weder bei der EM 82 noch bei den Olympischen Spielen in Los Angeles oder bei der Heim-EM 1986 in Stuttgart.
Im Zehnkampf hat man den Leistungshöhepunkt zwischen 21 und 28, dann geht‘s schon wieder bergab. Es war und bleibt sehr schade, dass ich in Moskau nicht am Start sein durfte. Eine Silbermedaille geht unter, aber eine Goldmedaille ist immer was Außergewöhnliches, auch für die Bevölkerung. Der gerade verstorbene Zehnkämpfer Willi Holdorf und seine Goldmedaille von Tokio 1964 – das gehörte immer zusammen, war immer ein Begriff. Und so viele gewinnen sie ja nicht. Es ist eine Auslese unter den Sportlern.

Sie übernahmen nicht den elterlichen Hof in Großheubach, wie Ihr Vater wünschte, sondern waren später Lehrer für Biologie und Sport, sind heute 67 und leben als Rentner in der Nähe von Mainz. Ist für Sie die Lehre von Moskau, dass sich Politik für immer aus dem Sport heraushalten soll?
Auf alle Fälle. Und zum Glück gab es in den letzten Jahren keinen Boykott mehr, auch wenn diese Diskussion bei Peking 2008 mit Blick auf Tibet noch einmal aufkam. Ich bin froh, dass das vorbei ist. Olympische Spiele müssen dorthin vergeben werden, wo ein Boykott überhaupt nicht in Betracht gezogen werden kann, also in demokratische Länder. Wie jetzt mit Paris für 2024 und Los Angeles für 2028. Diese Spiele sind etwas Einmaliges – und sie dürfen durch die Politik nicht kaputtgemacht werden!

Video: Guido Kratschmer bei den Deutschen Meisterschaften 1985

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