„Der Zirkus stirbt nicht“
Jahresbilanz

„Der Zirkus stirbt nicht“

Wie war das Jahr 2020 für den tschechischen Artisten Antonín Navrátil-Rapolli? Im PZ-Interview zum Jahresauftakt war er voller Zukunftspläne …

30. 12. 2020 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Laura Louise Grimsley

PZ: Was für ein Jahr! Die Corona-Pandemie 2020 wird ohne Zweifel in die Geschichtsbücher eingehen. Sind Sie und Ihre Familie gesund geblieben?
Antonín Navrátil-Rapolli: Zum Glück ja. Die Gesundheit war okay. Aber natürlich war in diesem Jahr vieles anders als geplant. Zu Jahresbeginn waren wir in Deutschland beim Zirkus Carl Busch, ab Ende Februar. Dann kam das Corona-Virus. So sind wir Mitte März, nach nur drei Wochen, schon wieder nach Hause gefahren. Wir waren anschließend zwei Monate in Prag und haben hier Dinge gemacht, für die wir normalerweise keine Zeit haben, am Haus zum Beispiel. Dann bekamen wir ein Angebot aus Dänemark, für fast vier Monate. Anfang Oktober kamen wir zurück. Seitdem sind wir ohne Unterbrechung wieder zu Hause.

Bei unserem Gespräch zu Jahresbeginn erwarteten Sie wieder die gleiche Anzahl von Auftritten wie im Jahr zuvor, weil Sie mit Engagements beim Zirkus und in Varietés weitgehend ausgebucht waren. Dafür wollten Sie von März bis Dezember quer durch Europa reisen, doch schon im März verhängten viele europäische Länder einen ersten Lockdown. Somit hatten Sie vermutlich sehr viel weniger Auftritte als im Jahr zuvor.
Das stimmt. Zum Glück hatten wir das Engagement in Dänemark. Dort waren wir über den Sommer bei einem Zirkus. So hatten wir zumindest eine Zeitlang Arbeit und kamen etwa auf die Hälfte der geplanten Auftritte. Sonst wären es vielleicht nur 10 bis 15 Prozent von dem gewesen, was wir zu Jahresbeginn vorgesehen hatten.

Hat Ihnen die Nähe zum Publikum in Dänemark wegen einer möglicher Ansteckung Sorge bereitet?
Ja, das war tatsächlich so. Aber es gab dort wirksame Maßnahmen im Zirkus. So war zum Beispiel nur die Hälfte der Besucher zugelassen. Zudem waren wir auf einer Insel rund um Kopenhagen, und dort waren die Infektionszahlen nicht so hoch.

Haben Sie sich in diesem Jahr wegen Corona trotzdem besonders geschützt?
In Dänemark waren die Regeln im Sommer sehr streng, mit Abstand und Desinfektion und so weiter. Das hat gut funktioniert. Und solange ich nicht arbeite, sehe ich kein Risiko. Nur wenn ich hier in Prag irgendwo hingehe, schütze ich mich, mit Maske und Hände waschen und so weiter. Wenn jeder macht, was nötig ist, dann funktioniert es auch – aber es muss eben auch jeder machen!

Antonín Navrátil und seine Frau Helena | © privat

Auf die Frage, worauf Sie sich 2020 besonders freuen, antworteten Sie: auf meine Familie. Für Frau und Kinder hatten Sie in diesem Jahr sicher deutlich mehr Zeit als erwartet. Was haben sie gemeinsam gemacht?
An erster Stelle stand das Training, ich trainiere fast jeden Tag mit meinen Kindern. Minimum zwei Stunden, wenn noch anderes zu tun ist. Richtiges Training bedeutet sogar drei oder vier Stunden. Mit meiner Tochter übe ich weiter Drahtseil-Akrobatik. Sie ist ganz verrückt danach, worüber ich mich natürlich freue. Und mein Sohn macht, wie schon am Jahresbeginn erzählt, eine Jongleur-Nummer.

Keinen Tag Pause, für gemeinsame Ausflüge oder anderes?
Nur sonntags machen wir etwas weniger. Oder auch mal nichts.

Klingt nach ziemlich großem Druck für die Kinder. Wie hat es in diesem Jahr gleichzeitig mit der Schule funktioniert?
Das ist natürlich nicht einfach für sie, Schule und Training zugleich. Zumal Schule ja nicht nur drei oder vier Stunden am Tag ist. Solange es möglich war, sind sie in Prag in die Schule gegangen. Doch dann wurde sie geschlossen und es gab Online-Unterricht. Zuletzt gingen sie eine Woche dorthin, dann waren sie eine Woche zu Hause und es wurde wieder online unterrichtet. Doch beim Training übe ich keinen Zwang aus, sondern versuche es mit Liebe. Und meine Kinder lieben den Auftritt, deshalb machen sie auch gerne mit.

Das heißt, Sie bereiten Ihre Kinder schon jetzt konsequent und nach Plan für eigene Auftritte vor.
Und damit sind wir keine Ausnahme. Das ist Tradition in Familien, die seit mehreren Generationen als Artisten arbeiten. Bei uns gibt praktisch jeder gute Artist sein Können an seine Kinder weiter. Denn in Tschechien gibt es keine Zirkusschulen, im Gegensatz zu Deutschland. Als ich klein war, habe ich auch mit meinem Vater geübt. Er hatte ein Schleuderbrett und damit sind wir fünfmal pro Woche in eine Turnhalle gegangen. Dorthin mussten wir fahren, dann die Requisiten vorbereiten, das kostete immer viel Zeit und Geld. Deshalb wollte ich von Anfang an ein Zimmer in meinem Haus haben, in dem ich jederzeit trainieren konnte. Das Zimmer ist acht mal vier Meter und sechs Meter hoch – dort können wir alles machen, was wir üben müssen.

Was bedeutet das für Ihre eigene Arbeit? Im Januar sagten Sie, dass Sie immer noch jeden Tag trainieren müssen, wenn auch weniger als früher. Haben Sie in diesem Jahr trotzdem immer weiter trainiert, vielleicht gar Neues einstudiert, obwohl Auftritte kaum möglich waren?
Ich konzentriere mich jetzt verstärkt auf die Arbeit mit den Kindern. Etwas Neues trainiere ich nur mit ihnen. Und wenn ich schon dabei bin, dann mache ich auch etwas für mich (lacht). Aber nur das, was nötig ist, um fit zu bleiben. Denn derzeit weiß ich ja nie, ob und wann ich wieder arbeiten kann. Deshalb muss ich immer bereit sein.

Sie sehen also für Ihre Branche auch nach Corona eine Zukunft – und für Ihre Kinder die Chance, eines Tages in einem Zirkus oder Varieté ihren Lebensunterhalt verdienen zu können?
Das hoffe ich sehr. Ich sehe diese Zeit nur als momentane Krise. Die Menschen haben jetzt anderes im Kopf als Kultur und Zirkus. Doch ich glaube fest daran, dass in einem Jahr wieder alles besser und gut sein wird. Dass der Zirkus und das Leben dort nie stirbt – und natürlich, dass auch wir weiterhin dabei sein werden.

Akrobat in einem Zirkus | © Miikka Luotio

Zirkusse gelten in Deutschland nicht als Kultureinrichtungen und bekamen deshalb keine staatliche Hilfe. Erhielten Sie Unterstützung vom Staat?
Auch bei uns in Tschechien gelten Zirkusse nicht als Kulturunternehmen. Ich bekam vom Staat eine Hilfe, weil ich meine Arbeit nicht ausüben konnte. Aber als Selbständiger, das hatte mit Zirkus oder Artist nichts zu tun. Das war jedoch ein lächerlich geringer Betrag, von dem kein Mensch leben kann.

Der Zirkus Charles Knie bat im Frühjahr um den Kauf von Programmheften, als finanzielle Hilfe für sein Unternehmen. Wie ist die Situation für Zirkusse in Tschechien und Deutschland, haben schon die ersten dauerhaft geschlossen?
Für Zirkusse war dieses Jahr ganz schlimm. In Tschechien waren zunächst nur ein paar hundert Besucher zugelassen, dann noch weniger. Und dann mussten die Zirkusse bei uns ganz schließen. In Deutschland ist mancher Zirkus in diesem Jahr überhaupt nicht auf Tournee gewesen. Oder nur für wenige Wochen, wie wir mit Carl Busch. Jetzt sagen viele Zirkus-Chefs, dass es auch in Zukunft schwer wird. Aber ich hoffe und denke auch, dass sie zu den alten Zeiten zurückkehren können, wenn die Impfungen funktionieren.

Und wie ist es für Artisten? Kennen Sie Kollegen, die woanders arbeiten müssen oder ihren Beruf ganz aufgegeben haben?
Natürlich kenne ich viele, die Probleme haben. Wie lange bestimmt Corona jetzt schon unser Leben? Ohne Einnahmen kann man vielleicht zwei, drei Monate durchhalten, dann sind die Ersparnisse meist aufgebraucht. Ich kenne Artisten, die zwar nicht aufgegeben haben, aber jetzt unbedingt arbeiten müssen. Sie verdienen ihr Geld nun als Chauffeure. Oder bei der Post.

Wie kommen Sie finanziell über die Runden?
Das Engagement in Dänemark hat uns sehr geholfen, dadurch hatten wir Einnahmen. Aber wenn es 2021 wieder so wird wie in diesem Jahr, dann weiß ich nicht, wie es weitergeht.

Wie sehr bestimmt Corona noch immer Ihren Alltag?
Solange diese Gefahr besteht, gehen wir nicht weg. Nur zum Einkaufen oder um meine Mutter und meine Schwester zu besuchen. Und dann fahren wir gleich wieder zurück. Dieses Jahr war nicht wie früher, wo wir einfach mal aus dem Haus gegangen sind. Wir passen auf und sind meistens daheim.

Und mit welchen Erwartungen gehen Sie nun in das Jahr 2021: Sind schon Engagements vereinbart?
(lacht) Ja, ich habe bereits ein Engagement. Läuft es normal, bin ich wieder bei Carl Busch dabei. Aber auch Busch muss abwarten, wie es weitergeht in Deutschland. Sobald wieder Vorstellungen möglich sind, wollen sie sofort loslegen. Als sie im März schließen mussten, wollten sie im Mai neu starten. Doch bis jetzt durften sie nicht mehr öffnen.

Mehr ist derzeit nicht möglich?
Nein, sonst gibt mir derzeit niemand einen Vertrag, weil die Unsicherheit zu groß ist und keiner weiß, was nächstes Jahr passieren wird. Nur Busch hat gesagt, dass sie auch 2021 wieder mit uns rechnen – sobald es weitergeht. Ich muss einfach darauf hoffen, dass Zirkusse überhaupt wieder arbeiten. Deshalb setze ich große Hoffnungen in den Impfstoff. Und dass es ab Frühjahr wieder besser wird. Aber es ist noch ein langer Weg bis dorthin …

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