„Online-Medien sind Pioniere“
Die Medienlandschaft ist im Umbruch. Professor Christoph Neuberger über die Zukunft des Journalismus
17. 2. 2021 - Interview: Klaus Hanisch
PZ: Die „Prager Zeitung“ feiert in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag, seit vier Jahren erscheint sie ausschließlich im Internet. In immer mehr Medienhäusern gilt die Devise – und zuletzt noch verstärkt: „Online first“. Ist Online die Zukunft des Journalismus?
Professor Christoph Neuberger (FU Berlin, Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft): Wir beobachten seit vielen Jahren, dass sich die Nachrichtennutzung von den klassischen Medien ins Internet verlagert. Das lässt sich international nachweisen. In Deutschland passiert dies etwas langsamer als in anderen Ländern. Bei den Hauptnachrichten liegt das Internet im Medienvergleich derzeit bei etwas mehr als einem Drittel. Deshalb verlagern auch die klassischen Qualitätsmedien ihre Aktivitäten immer mehr ins Internet, obwohl sie immer noch große Probleme haben, damit Geld zu verdienen. Doch die Nutzung hängt stark vom Alter der User ab. Für die 18- bis 24-Jährigen ist das Internet jetzt schon die Hauptnachrichtenquelle. Und für etwas mehr als ein Viertel dieser Altersgruppe sind wiederum die sozialen Medien die hauptsächliche Quelle für Nachrichten.
Im Corona-Jahr 2020 erzielten die Online-Seiten enorme Zuwächse, auch die „Prager Zeitung“ wurde so häufig aufgerufen wie nie zuvor. War das lediglich dem Wissensdurst zu Corona bzw. mehr Freizeit in dieser außergewöhnlichen Phase geschuldet oder hat sich der Wandel in der Mediennutzung hin zu Online endgültig manifestiert?
Neue Studien zeigen, dass es im vergangenen Jahr in der Tat eine Verlagerung ins Internet gab. Das war vor allem zu Beginn der Pandemie so, weil der Informationsbedarf enorm groß war. Dabei vertrauten viele ganz besonders den Qualitätsmedien, auch im Internet. Wie in anderen Krisensituationen gingen die Leser davon aus, dass sie dort die seriösesten Informationen erhielten. Das ließ im Verlauf des Jahres 2020 wieder nach. Daher sollte man mit schnellen Schlussfolgerungen noch vorsichtig sein.
Im Kontrast zur steigenden Nachfrage steht, dass Verlage während der Pandemie gleichzeitig weniger Einnahmen durch Anzeigen für ihre gedruckten Zeitungen erzielen und deshalb Journalisten in Kurzarbeit schicken müssen. Verlage finanzieren jedoch immer noch ihre Online-Aktivitäten hauptsächlich durch Verkäufe bei Print. Wie könnte ein Bezahlmodell für Online aussehen – und wann setzt es sich durch?
Jedes Jahr wird die Nachrichtennutzung im Internet in mittlerweile 40 Ländern nachgefragt. Dabei wird auch eruiert, wie groß die Bereitschaft ist, für Artikel im Internet zu zahlen. Stets sind die Deutschen unter den letzten. Erklärt wird dies mit einem Geburtsfehler: Anfangs glaubten deutsche Medien, ihre Nachrichten im Internet quasi verschenken zu können. Davon wieder wegzukommen, ist sehr schwer. Schon in den späten 1990er Jahren haben Medien versucht, dies zurückzunehmen, aber es schlug fehl. Mittlerweile haben die meisten Zeitungen Zahlungsmodelle in irgendeiner Form entwickelt, etwa für Abos oder einzelne Artikel. Alles jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. So haben im Jahr 2019 lediglich sechs Prozent der Deutschen regelmäßig für Nachrichten im Internet bezahlt. In Norwegen waren es dagegen 26 Prozent, in Schweden 22 Prozent – und das ist schon seit Jahren so.
Was könnte eine Lösung sein?
Ökonomen sagen, dass das nur als gemeinsamer Schritt vieler Online-Nachrichtenangebote funktionieren kann. Also nur, wenn ein Leser mit einmaliger Zahlung eines Abos Zugriff auf viele verschiedene Titel und Artikel bekommt. Das würde sich am ehesten rechnen und damit wären auch Schlupflöcher verbaut. Wichtig ist zudem, das Qualitätsbewusstsein der User zu schärfen. Etwa, dass es Exklusivität nicht mehr kostenlos geben kann. Oder dass es einen Unterschied macht, ob ich eine Information auf Twitter aufschnappe oder auf der Website eines seriösen Mediums erhalte. Befragungen zeigen jedoch, dass manchen völlig egal ist, auf welcher Website sie mit Hilfe von Suchmaschinen landen und von wem sie Informationen beziehen. Medien in der Schweiz und in Deutschland haben versucht, mit hohem Aufwand sehr gute Artikel ausschließlich im Internet zu publizieren. Doch es hat sich herausgestellt, dass man damit allenfalls kleine Nischen besetzen kann.
Wie wir aus eigener Erfahrung wissen, lassen sich Online-Artikel oft am besten über soziale Medien verbreiten. Wie sehr kann und muss sich Online-Journalismus von Facebook, Twitter & Co. abgrenzen bzw. auf deren Hilfe bauen?
Das ist eine ambivalente Angelegenheit. Auf der einen Seite nutzen Redaktionen mittlerweile ganz intensiv die verschiedenen sozialen Medien, nicht nur zur Steigerung der Reichweiten, sondern auch zur Interaktion mit dem Publikum oder für Recherchen. Unternehmen wie Google und Facebook haben Förderprogramme aufgelegt und geben Medien Geld für Innovationsprojekte. Namhafte deutsche Qualitätsmedien machen dabei mit. Wer sich darauf einlässt, kann natürlich kaum noch unabhängig über solche Plattformen berichten. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob man darauf verzichten kann. Schließlich brauchen Medien Daten und Reichweiten, und über soziale Medien oder Google (News) erreicht man viele Menschen. Es gibt im Medienbereich einfach noch keine anderen Plattformen, auf denen sich so viele Menschen treffen und Empfehlungen austauschen können wie auf Facebook.
Soziale Medien sind kein Journalismus mit Redaktionen und Recherchen. Gerade der abgewählte US-Präsident Trump hat gelehrt, wie stark und wie schnell sich darüber Fake News verbreiten lassen. Warum glauben dennoch so viele den sozialen Medien und achten dabei so wenig auf seriöse Quellen?
Das möchte ich relativieren. Studien zum Vertrauen in den Journalismus und im Vergleich zu sogenannten alternativen Medien haben gezeigt, dass Nutzer durchaus Unterschiede machen. So vertrauen etwa 67 Prozent dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, aber nur zehn Prozent den sozialen Netzwerken. Das sind trotzdem noch erstaunlich viele. Zu ihnen gehören neben den Jüngeren vor allem Menschen, die klassische Medien wie auch die Politik skeptisch betrachten – und das sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung.
Die PZ setzt auf exklusive Interviews, Features, Reportagen, Hintergründe. Oft steht Online-Journalismus heutzutage aber für größtmögliche Aktualität, vielen Medien geht es darum, die Ersten zu sein. Nach dem Motto „Hauptsache schnell“ statt „gut und zuverlässig“. Hat Online ein Qualitätsproblem?
Mit Sicherheit, auch im professionellen Journalismus. Das resultiert zum einen aus dem ökonomischen Problem, die Online-Aktivitäten zu refinanzieren. Zum anderen fehlt in vielen Redaktionen ein systematisches Innovationsmanagement. Vieles wird in der digitalen Gesellschaft durch Hypes vorangetrieben. Beobachtbar ist auch eine Beschleunigung: „Kurz und schnell“ lautet die Devise. Davon lässt sich auch der Journalismus mitreißen. Medien glauben oft, dieses Wettrennen gewinnen zu müssen.
Unternehmen und Einzelpersonen verbreiten immer öfter eigene Inhalte über ihre Social-Media-Kanäle oder TV-Kanäle und werden dadurch selbst zu Quellen für große Zeitungen und Magazine. Wie viele Medien hat auch die „Prager Zeitung“ die Erfahrung gemacht, dass Kontakte mit solchen Unternehmen und Einzelpersonen dadurch schwieriger geworden sind. Ist das eine Gefahr, mittelfristig gar das Ende von kritischem Journalismus?
Gerade im Sport haben Spieler und Vereine Sorge, sich ihren Ruf durch Kritik von unabhängigen Medien beschädigen zu lassen. Deshalb machen sie es lieber selbst. Im Sport ist es zudem lukrativ, wenn man die exklusiven Informationen selbst weitergibt und damit hohe Reichweiten erzielt. Auch viele Politiker haben ihren eigenen Twitter-Kanal, mit dem sie zwar nicht die Masse der Bürger erreichen, aber dafür Multiplikatoren und Medien. In der Sport- und Politik-Berichterstattung ergeben Investigativ-Recherchen Sinn, um der journalistischen Kritik- und Kontrollaufgabe gerecht zu werden. Aber den Aufwand dafür kann sich nicht jede Redaktion leisten.
Die meisten Medien setzen im Internet auf größtmögliche Reichweite und dementsprechend suchmaschinenoptimierte Texte. Aus wirtschaftlichen Gründen wollen sie, dass so viele Leser wie möglich einen Artikel aufrufen, egal welchen Inhalts. Das widerspricht doch journalistischen Prinzipien.
In der Tat. Journalismus – und gerade die Tageszeitung – hat die Aufgabe, über alle wichtigen Themen zu berichten. Das ist eine für die Demokratie wichtige Aufgabe, damit der Überblick erhalten bleibt und Menschen sich selbst eine Meinung bilden und mitsprechen können. Durch selektiven Zugriff oder Filterblasen droht die Gefahr, dass unser Horizont verengt wird und wir vieles nicht mehr mitbekommen. Dies ist jedenfalls eine verbreitete Sorge. Gleichwohl sind in der wissenschaftlichen Forschung die Auswirkungen von Algorithmen umstritten. Wir werden deshalb nicht vereinsamen und auch nicht völlig den Überblick verlieren. Manche Studie besagt sogar, dass soziale Netzwerke dazu beitragen, den Horizont zu erweitern, weil wir auf Themen stoßen, die uns überraschen und vorher nicht interessiert haben und die auch nicht in Tageszeitungen zu finden sind.
Immer wieder erhält die PZ Kommentare und Anfragen zu vor mehreren Jahren veröffentlichten Artikeln. Ein deutlicher Beleg dafür, dass Artikel im Internet extrem lange „aktuell“ sind. Daher ist Glaubwürdigkeit eine entscheidende Währung, wie prinzipiell für den Journalismus. Wie groß ist die Gefahr, dass Online-Journalismus aufgrund seines „Schnelligkeit-Prinzips“ mit Fake News gleichgesetzt wird?
Ich glaube nicht, dass solche Zweifel generell berechtigt sind. Das Vertrauen in den professionellen Journalismus ist ungebrochen hoch. Ausnahmen sind Krisensituationen, also Terroranschläge, Amokläufe oder Kriege, in denen Berichterstatter stark unter Druck stehen und die Sogwirkung des Internets enorm wird. Da wird permanent und sofort vom Ort des Geschehens berichtet, ohne dass Kollegen diese Informationen noch einmal überprüfen konnten. Dadurch schlägt der Journalismus sich selbst, und dann ist auch in Einzelfällen Kritik berechtigt. Allerdings hat der Online-Journalismus im zurückliegenden Vierteljahrhundert auch gelernt, mit solchen Drucksituationen umzugehen. Fehler werden später korrigiert, oder es wird unterschieden in das, was bekannt und gesichert, und in das, was noch offen und unklar ist.
Wie kann seriöses Arbeiten im Alltag gelingen?
Dabei ist ganz wichtig, dass erklärt wird, weshalb ein Medium die besseren Nachrichten liefert. Dass zum Beispiel offengelegt wird, wie man arbeitet, dass Transparenz hergestellt wird, dass es einen Blog gibt, in dem sich die Redaktion auch kritischen Fragen stellt. Und dass man auch ein Bewusstsein dafür schafft, was Objektivität bedeutet und wie sie durch bestimmte Praktiken erreicht wird. Konkret: Wie werden Aussagen gegengeprüft, wie wählt man Quellen aus usw.
Unternehmen, die in Online-Anzeigen investieren, geben ihr Geld meist nicht direkt an Verlage oder Online-Medien, sondern an Vermittler, die hohe Provisionen einstreichen und Aufträge weitgehend an große Medien vergeben. Ist damit die Zukunft kleinerer Medien, die für Berichterstattung in der Fläche und für Meinungsvielfalt sorgen und auch spezielle Interessengebiete („special interest“) abbilden, massiv gefährdet?
Das hängt davon ab, welche Zielgruppen erreicht werden sollen. Ob also Anzeigenkunden die breite Masse oder nur spezielle Gruppen ansprechen wollen. Sicher wird nicht jede Minderheit so viel Interesse bei Werbekunden wecken, dass sich damit eine Redaktion finanzieren lässt. Darunter kann sicher die Vielfalt an Medien leiden. Denn die Konsumstärke bestimmter Zielgruppen reicht nicht aus für genügend Anzeigenkunden, weshalb diese Medien möglicherweise auf der Strecke bleiben.
Seit Beginn der Corona-Pandemie haben auch Medien über das Kurzarbeiter-Geld für ihre Mitarbeiter hinaus finanzielle Hilfen vom Staat angemahnt, bekamen jedoch zur Antwort, dass sie in erster Linie Wirtschaftsunternehmen seien – was bei der Förderung etwa der Lufthansa durch staatliche Hilfen freilich keine Rolle spielte. Wie passt das zur Aussage der Politik, dass Medien in der Corona-Zeit systemrelevant und wesentliche Stützen der Demokratie seien?
In Deutschland gibt es seit vorigem Jahr einen Beschluss, dass es eine Presseförderung geben soll, mit einem stattlichen dreistelligen Millionenbetrag. Das ist für Deutschland ganz neu, so intensiv in die Presseförderung einzusteigen, wie sie in anderen Ländern wie Österreich, Frankreich oder Italien längst gang und gäbe ist. Nun wird darüber diskutiert, wie diese Summe verteilt und was genau gefördert werden soll. Dabei geht es vor allem um Digitalisierung. Doch reine Internet-Anbieter klagen jetzt schon, dass sie nicht in diese Förderung aufgenommen wurden, aber eigentlich die Zukunft seien.
Ihre Einschätzung: Werden diese beträchtlichen Mittel richtig eingesetzt oder doch nur an die Großen gehen?
Ich bin mir nicht sicher, dass trotzdem alle Printmedien überleben werden, denn in Deutschland gibt es noch immer sehr viele kleine Zeitungen und Zeitschriften. Wobei allerdings sehr viele Titel schon seit Jahren durch Kooperationen überleben, weil ihnen Mantelseiten zugeliefert werden und frühere Konkurrenten heute Lokalseiten austauschen. Es doppelt sich schon so viel, dass man Sorge um die Vielfalt haben muss.
Sollten damit gerade Online-Medien gefördert werden oder sind sie noch zu klein für staatliche Hilfen?
Darüber kann man trefflich streiten. Man kann sagen: Online-Medien sind zwar klein, aber die Zukunft und deshalb brauchen sie staatliche Hilfe quasi als Start-up-Förderung. Zumal sie Pioniere sind und gerade die Möglichkeiten ausloten, was machbar ist und wie guter Online-Journalismus aussehen könnte. Oft wird ja behauptet, dass die alten Medien – diese großen Dinosaurier – gar nicht in der Lage sind, sich die neuen Möglichkeiten agil zu erschließen. Und dass es deshalb kleine Angebote braucht, die sich eines Tages durchsetzen werden. Sinn hat für mich ein Mischverhältnis: Wer für die Demokratie wichtig ist, sollte gestärkt und gestützt werden. Und ebenso jene, die die neuen Möglichkeiten erproben.
Abschließend noch eine persönliche Frage: Sie lehren in Berlin, haben aber verwandtschaftliche Beziehungen zu Tschechien – welche sind das?
Die Familie meiner Mutter stammt aus Alt Moletein (Starý Maletín). Und der Vater meiner Ehefrau ist im nahe gelegenen Mariakron (Koruna) aufgewachsen. Wir sind also mit dem Schönhengstgau verbunden.
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