„Diese EM ist eine Farce“
EXKLUSIV

„Diese EM ist eine Farce“

Der legendäre Sepp Maier über Fußball heute und früher

14. 6. 2021 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Sepp Maier mit dem WM-Pokal im Münchner Olympiastadion, 7. Juli 1974 © Bert Verhoeff / Anefo

PZ: Die ersten Spiele sind gespielt. In den Stadien sind, je nach Spielort, zwischen 12.000 und 67.000 Zuschauer zugelassen. Ihr Eindruck von dieser EM?
Sepp Maier: Diese EM ist für mich eine Farce! Die Nationalmannschaften in dieser Zeit durch ganz Europa zu schicken, ist eine Katastrophe. Und dann noch in Städte wie Bukarest, wo Österreich gegen Nordmazedonien spielte, obwohl Rumänien bei der EM überhaupt nicht dabei ist. Oder Baku, Aserbaidschan, auch nicht dabei. Was soll denn dieser Krampf?! Da kann nie eine Stimmung aufkommen, niemals. Eine Europameisterschaft kann man höchstens in zwei Ländern durchführen. Besser noch, in einem Land.

Bedeutet, dass Sie generell gegen eine EM während der Corona-Pandemie sind oder speziell gegen den Modus?
Gegen den Modus. Die Spieler hatten vergangene Saison schon sehr viel Stress. Jetzt leben sie wieder in einer Blase, dürfen nirgendwo hin – und müssen mit dieser Blase auch noch durch ganz Europa fliegen. Dies wäre schon ohne Pandemie ein Stress. Ebenso beim Champions-League-Finale: Zwei englische Mannschaften – und statt in Wembley ein paar Hundert Kilometer entfernt zu spielen, mussten Spieler und Fans Tausende von Kilometer nach Porto reisen. So ist eben die Uefa … Dass die EM jetzt nachgeholt wird, wo die Pandemie ein Stück weit überwunden ist, finde ich gut. Auch, dass Zuschauer wieder in die Stadien dürfen.

Für Schockmomente sorgte der Kollaps des Dänen Christian Eriksen im Spiel gegen Finnland.
Das war schlimm. Aber es ist leider kein Einzelfall. Das passierte schon mehreren Fußballern …

… man dachte sofort an Antonio Puerta vom FC Sevilla und Marc-Vivien Foé aus Kamerun, die auch während einer Partie zusammenbrachen.
Und an den Österreicher Bruno Pezzey, der für Eintracht Frankfurt spielte. Der Bruno ist beim Eishockey einfach umgefallen und gestorben. Dagegen ist keiner gefeit.

Als wir Sie vor der letzten EM 2016 erreichen wollten, waren Sie gerade unterwegs auf ein Kreuzfahrtschiff. Wo verfolgen Sie diesmal die EM-Spiele?
Entweder zu Hause oder in Südtirol. Dort leben wir jedes Jahr mindestens drei Monate, in ein paar Tagen fahren wir wieder hin. Ich muss auch nicht mehr jedes Spiel sehen. Die der Deutschen sind natürlich Pflicht. Aber ich schaue sie mir nur an, wenn sie gut spielen, sonst schalte ich ab. Dann werde ich nämlich sauer und gucke lieber Golf oder Tennis.

Maier war in den Siebzigern die Nr. 1 im deutschen Tor. | © DFM

Vor genau 45 Jahren, am 20. Juni 1976, standen Sie selbst in einem EM-Finale, Gegner war die ČSSR. Sie waren damals bereits Welt- und Europameister und mehrfacher Europapokal-Sieger. Sind Sie heute trotzdem noch enttäuscht, dass es damals nicht zum Titel reichte?
Wir haben schon mit diesem Titel gerechnet, denn wir waren ja fast die gleiche Mannschaft wie bei der WM 1974. Und wir hätten auch gewonnen, wenn unser Präsident uns nicht kurz vor Anpfiff mitgeteilt hätte, dass das Spiel noch an diesem Tag entschieden wird. Wir antworteten ihm: sowieso – weil wir das Spiel ja heute gewinnen werden. Er meinte jedoch, auch bei Unentschieden gebe es kein zweites Spiel, sondern sofort Verlängerung und Elfmeterschießen. Das hatte die Uefa zum allerersten Mal beschlossen. Und wir sagten erneut: Brauchen wir nicht, wir gewinnen sowieso in der regulären Spielzeit.

Das Spiel endete 2:2 nach Verlängerung. Warum war das anschließende Elfmeterschießen für die deutsche Mannschaft ein Nachteil?
Weil wir überhaupt nicht darauf vorbereitet waren. Wir hatten das nicht besprochen und vorher nicht trainiert. Als es dann soweit war, haben sich alle über den Platz verteilt, keiner wollte schießen. Deshalb habe ich unserem Kapitän Franz Beckenbauer angeboten, einen Elfmeter zu schießen. Der Franz antwortete: Geh du lieber ins Tor und halte die Elfer vom Gegner. Daraufhin fragte er bei Uli Hoeneß nach, der sich auch schon abgedreht hatte. Und der meinte, dann schieße er eben …

… und Hoeneß schoss den Ball so hoch übers Tor, dass man ihn einer Legende nach heute noch im Endspielort Belgrad sucht.
Mittlerweile haben sie ihn gefunden …

Die ČSSR blieb zuvor in mehr als 20 Spielen ungeschlagen. War deren Sieg daher alles andere als überraschend oder war Deutschland für Sie als amtierender Weltmeister klarer Favorit?
Wir waren trotzdem Favorit. 1972 Europameister, 74 Weltmeister, 76 wieder im Finale – wir hatten über Jahre eine super Nationalmannschaft. Natürlich wussten wir, dass die ČSSR eine Erfolgsserie hatte. Aber damals war man über einen Gegner längst nicht so genau informiert wie heute. Bei der Spielerbesprechung hatte Bundestrainer Schön vielleicht zehn Minuten lang ein Video vorgeführt, mit ein paar Spielszenen und Toren. Heute ist die Vorbereitung auf den Gegner bald wie eine Doktorarbeit. Daher wusste ich auch nicht, wie Panenka seinen Elfmeter schießen würde.

Dieser Lupfer ohne große Schärfe und genau in die Mitte des Tores prägte einen Stil und ist bis heute nach dem Stürmer von Bohemians Prag benannt.
Panenka erzählte mir Jahre später, dass er seine Elfmeter immer so schoss, quasi bei jedem Meisterschaftsspiel in der nationalen Liga. Das war also nichts Neues – aber wir wussten es nicht. Wenn das heute jemand drei oder vier Mal so macht, dann ist es allgemein bekannt. Wobei ich bei den Elfmetern von den Tschechen auch viel Pech hatte, ich war bei jedem Elfer im richtigen Eck. Bis auf den von Panenka, diese linke Bazille …

Sind Sie heute noch böse auf ihn?
Ach nein. Wir trafen uns einmal auf Einladung der Deutschen Botschaft in Prag und hatten eine richtige Gaudi, wie man auf bayerisch sagt. Damals sagte er mir, ich soll mich nicht ärgern, es gebe auch etliche andere, die er auf diese Weise verladen habe.

Zudem galt auch dafür Ihr Leitsatz: „Der Ball war unhaltbar – sonst hätte ich ihn ja gehalten“?
(lacht) Genau, richtig!

Bekamen Sie mit, dass Antonín Panenka im Herbst schwer an Corona erkrankt war?
Ja, ich erhielt telefonisch die Information, dass er im Krankenhaus lag. Ich ließ ihm schöne Grüße und Genesungswünsche ausrichten.

Torwart Ivo Viktor war damals ein Leistungsträger der Tschechoslowaken. Erinnern Sie sich noch an ihn, hatten Sie gar mal Kontakt mit ihm?
Ja, logisch, der Viktor war ein toller Torhüter in der damaligen Zeit. Er war auch in Deutschland bekannt. Kontakt hatten wir allerdings nur auf dem Spielfeld.

Maier bestritt 95 A-Länderspiele. | © DFB

Zu Ihrer aktiven Zeit trugen viele Spieler denkbar knappe Hosen, Sie dagegen immer sogenannte Fritz-Walter-Gedächtnishosen. Quasi ein Markenzeichen von Ihnen …
… und damit war ich der Zeit meilenweit voraus, Jahrzehnte voraus. Heutzutage haben ja alle diese Hosen an.

Was ist aus Ihren Sets geworden?
Keine Ahnung, was mit denen passiert ist. Ich war nie ein großer Sammler, auch nicht von Trikots von gegnerischen Spielern. Nur eines habe ich, von Gordon Banks, dem Torhüter der englischen WM-Elf 1966. Das habe ich unserem damaligen Torwart Hans Tilkowski aus seiner Sporttasche geklaut. Im Tausch dafür habe ich ihm mein Trikot reingelegt …

Sie waren auch beim EM-Endspiel zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik vor 25 Jahren dabei, am 30. Juni 1996. Damals als Trainer der Nationaltorhüter. Deutschland hatte so viele Verletzte, dass sogar ein Spieler nachnominiert werden musste. Die Tschechen galten als individuell stark besetzt, mit Poborský, Bejbl, Kadlec. Glaubten Sie das Spiel verloren, als Tschechien nach einer Stunde durch Bergers Elfmeter in Führung ging?
Das weiß man nie in einem Endspiel. Man hofft dann immer noch, dass es gut ausgeht. Das wir am Ende aber auf diese Art und Weise gewinnen, hätte es nicht gebraucht. Da hatte sich die Uefa wieder eine tolle Regel einfallen lassen. So ein Schmarrn.

Sie sprechen das Golden Goal an, durch das Deutschland in der Verlängerung mit 2:1 gewann.
Durch so ein „Gurkentor“ von Bierhoff.

Hatten Sie Mitleid mit Torwart Petr Kouba, dem Freund und Gegner bis heute das entscheidende Gegentor anlasten?
Auf jeden Fall. Er spielte während der gesamten EM in England gut, sonst wäre Tschechien nie ins Endspiel gekommen. Dann passierte ihm ein Fehler, der durchaus passieren kann. Dass daraufhin sofort Schluss war, habe ich als sowas von ungerecht empfunden. Den Fehler konnten die Tschechen nicht mehr ausbügeln. Und wir waren zwar Europameister, konnten uns unter diesen Umständen aus meiner Sicht darüber aber nicht richtig freuen. Wenn der Gegner auf einen Fehler nicht mehr reagieren kann und man deshalb einen Titel gewinnt, dann hat das mit Sport nichts mehr zu tun.

In beiden Finals gab es ungewöhnliche Entscheidungen, 1976 durch Elfmeterschießen, 1996 durch ein Golden Goal. Waren beide Entscheidungen in Ihren Augen ungerecht?
Das Elfmeterschießen 1976 war schon gerecht. Aber die Vorgehensweise war falsch und unfair. Man kann doch nicht am Endspieltag eine Sitzung abhalten, wie die Uefa, und eine Stunde vor Spielbeginn solch eine Entscheidung treffen. Hätte sie die Regelung früher bekannt gegeben, dann hätte jeder Spieler, der vorgesehen war, nach jedem Training noch zehn oder zwölf Elfmeter geschossen, damit er Sicherheit dafür gewinnt. Bis dahin gab es bei Unentschieden in einem Finale immer zwei Tage später ein Wiederholungsspiel. Wir waren die Ersten, die diese Entscheidung büßen mussten.

Ein Dokumentarfilm zur Euro 96 lebt sehr stark von jenen Aufnahmen, die Sie mit Ihrer privaten Kamera ganz nah bei den Spielern machten und für diesen Film zur Verfügung stellten. Haben Sie ein großes Archiv aus der Zeit von früher?
Ich begann damit bei der WM 1990 in Italien. Trainingslager, Kabine, Stadiongang, Feiern nach dem Spiel, Gesang nach Siegen – jeweils gut eine Stunde Material von dort, wo Kameras der Fernsehanstalten nicht drehen dürfen. Was also intern in einer Mannschaft passiert und was man auch nicht stellen kann, sondern live erleben muss. Diese Aufnahmen habe ich für die Spieler selbst gemacht, wenn sie sich in 20 oder 30 Jahren an ihre EM oder WM oder an Länderspiele zurückerinnern oder ihren Enkeln zeigen wollen. Insgesamt habe ich 50 DVDs gemacht und bei Weihnachtsfeiern vom DFB als Geschenke verteilt.

Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorüber. Vor mir liegt eine Anzeige, in der Sie für Impfungen werben. Wie kam es dazu?
Ich erhielt eine Anfrage des Bundesgesundheitsministeriums, ob ich bei dieser Kampagne mitmachen würde, als einer von mehreren Prominenten. Ich habe gerne zugesagt, wenn ich damit jemanden animieren kann, dass er sich impfen lässt. Ich habe vergangene Woche selbst die zweite Impfung bekommen.

Maier ist Teil der #ÄrmelHoch-Aktion des Gesundheitsministeriums | © BMG

Auf diesem Foto für Impfungen wirken Sie wie früher. Zudem haben Sie dieses Gespräch auf 23 Uhr terminiert. Von Alter also keine Spur bei Ihnen, trotz 77 Lebensjahren?
Ich bin ein richtiger Nachtmensch. Dafür schlafe ich vormittags länger. Dann gehe ich mit meiner Frau golfen.

Wie nah sind Sie noch am Fußball?
Ich interessiere mich schon noch dafür. Für den FC Bayern und die Nationalelf. Aber nicht mehr so sehr wie früher. Ich habe 1959 bei Bayern München angefangen und 2008 als Trainer dort aufgehört. Fußball war also 50 Jahre lang mein Beruf. Danach will man auch mal was anderes machen.

Wagen Sie einen Tipp für den Europameister?
Au, das ist schwierig, mmmmh. Frankreich oder Deutschland. Allerdings liege ich immer daneben.

Sie haben also kein großes Vertrauen in die Deutschen?
Nein, ich traue ihnen nicht viel zu, ganz ohne Spaß. Und mein Gefühl täuscht mich selten. Früher hatte ich meine Kamera immer dann dabei, wenn ich einen Erfolg für möglich hielt. Das war 1990 so, ebenso 1996. Nicht aber 2000, weil mir klar war, dass es mit Trainer Erich Ribbeck nichts wird. Und auch nicht 2004 in Portugal, weil ich ahnte, dass sich kein Meter Film lohnen würde. 1994 hatte ich sie zwar dabei, aber die Aufnahmen sind nix geworden.

Also hätten Sie für diese EM keine Kamera im Gepäck?
Naja, vielleicht hätte ich sie dabei und auf Anschlag eingestellt …

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