Gedenken an das Verschlingen

Gedenken an das Verschlingen

In Tschechien fällt eine offene Auseinandersetzung mit dem Genozid an Sinti und Roma noch immer schwer

31. 10. 2012 - Text: Sabina PoláčekText: Sabine Poláček; Foto: čtk

Mehr als 100 Gäste waren anwesend als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vergangene Woche in Berlin das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma einweihte. Ihre Rede, bewegend und mahnend zugleich, war ein Plädoyer gegen das Vergessen der unfassbaren Gräueltaten. Knapp vier Monate zuvor, 340 Kilometer südlich: Nach 17 Jahren besuchte zum ersten Mal ein tschechischer Regierungsvertreter das Denkmal der ermordeten Sinti und Roma im südböhmischen Lety. Auch Premierminister Petr Nečas (ODS) war um einen würdevollen Auftritt bemüht. Er legte einen Kranz nieder, verbeugte sich und betonte, dass „Rassismus unser Leben nicht beherrschen darf. Das sind wir den verstorbenen Roma sowie ihren Angehörigen, unseren Mitbürgern, schuldig.“ Das Gedenken in Deutschland und Tschechien hat eines gemeinsam: Es kommt spät. Anlass für einen Blick auf die Erinnerungskultur in beiden Ländern.

Unerträgliche Erniedrigung
Erstmals bezeichnete Helmut Schmidt (SPD) die Ermordung der Sinti und Roma in Deutschland als Völkermord. Das war 1982. Zehn Jahre später beschloss die Bundesregierung und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma zu bauen. Nach einem langwierigen Streit über Gestaltung und Kosten wurde 2008 mit dem Bau begonnen. Am vergangenen Wochenende konnte das kreisrunde, dunkle Wasserbecken des israelischen Künstlers Dani Karavan endlich enthüllt werden. „Es ist ein würdiger Ort im Zentrum Berlins in unmittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag“, so der Staatsminister für Kultur und Medien Bernd Neumann (CDU) beim Festakt.

Von einer derart privilegierten Lage eines Mahnmals für den Völkermord ist man in Tschechen meilenweit entfernt. Auf dem abgelegenen Gelände der Gedenkstätte in Lety nahe der südböhmischen Stadt Písek steht eine Schweinefarm. Eine „unerträgliche Erniedrigung und Demütigung“ nennt dies Romano Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Luboš Velek, Historiker an der Prager Karls-Universität, bezeichnet diesen Umstand als „peinlich“. Der deutsche Historiker Frank Reuter vom Dokumentationszentrum der Sinti und Roma in Heidelberg zieht den Vergleich: „Die Roma respektieren und würdigen durchaus die deutschen Bemühungen der vergangenen zwanzig Jahre. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich das Berliner Mahnmal gleich neben dem Bundestag befindet. Das wäre so, als ob die Tschechen ein Denkmal für die ermordeten Roma gleich neben der Prager Burg errichten würden. Die Deutschen sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Davon kann in Tschechien nicht die Rede sein.“ Velek, der die deutsch-tschechischen Beziehungen erforscht, nennt Gründe: „Das liegt daran, dass sich die Deutschen als Täter sehen. Die Tschechen fühlen sich dagegen vielmehr als Opfer.“ Die Verbrechen der Nationalsozialisten am tschechischen Volk würden als gewichtiger empfunden.

Verschwiegene Geschichte
Ein historischer Rückblick: Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts kamen Roma in das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik. Die Volksgruppe der Sinti lebte vor allem im von Deutschen besiedelten Böhmen, die mährischen Roma vorwiegend in Südmähren. 1927 wurde in der Ersten Tschechoslowakischen Republik das Vagabundieren verboten. Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa 70.000 Sinti und Roma im Land – davon knapp 95 Prozent im slowakischen Teil. Ziel war, das „fahrende Volk“ zur Anpassung zu zwingen.

1942 wurden im Protektorat Böhmen und Mähren sogenannte „Zigeunerlager“ errichtet – beispielsweise im mährischen Hodonín und im böhmischen Lety bei Písek. Allein im südböhmischen Lager wurden unter Beteiligung des tschechischen Polizeiapparats 326 Roma ermordet. Bis 1944 wurden zahlreiche Roma ins Lager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie auf grausame Weise umkamen. Rund 6.500 Roma lebten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Protektorat Böhmen und Mähren. Nach dem Genozid zählte man nur 600 Überlebende.

Diese Tatsache hat das kommunistische Regime lange verschwiegen, genauso wie die vernichteten Roma-Siedlungen und die Zwangssterilisierungen, die die damalige Regierung 1976 plante oder gar durchführte. „Bis zum Jahr 1989 wusste die Bevölkerung nichts über den Roma-Genozid auf tschechischem Boden. An den Schulen wurde darüber kein Wort verloren, es gab hierzu auch keine wissenschaftlichen Publikationen“, erklärt Historiker Luboš Velek.

Erst die Samtene Revolution von 1989 ließ die Roma aufatmen, meint der langjährige Vorsitzende der Roma-Bürgerinitiative (Romská občanská iniciativa, ROI) Emil Ščuka.

Deutlicher Sinneswandel
Sechs Jahre später weihte Präsident Václav Havel das Denkmal in Lety ein. Schon damals befand sich auf dem Gelände eine Schweinefarm. Roma-Verbände fordern den Staat seit Jahrzehnten vergeblich dazu auf, den Großmastbetrieb zu kaufen und eine würdige Umgebung für die Gedenkstätte zu schaffen. Premier Nečas äußerte im Juli in Lety, dass es dem Staat hierzu an Geld fehle. Der Vorsitzende der Roma-Gemeinschaft in Mähren (Společenství Romů na Moravě), Karel Holomek, allerdings ist überzeugt davon, dass es mangelnder politischer Wille ist, der einer Beseitigung der Schweinezucht im Wege steht: „In der Gesellschaft gibt es gegenüber den Roma zu viele Vorurteile, ja sogar Hass.“

Während sich in Tschechien bislang keine nennenswerte Erinnerungskultur und keine adäquate Aufarbeitung etablieren konnte, fand in Deutschland laut Frank Reuter, Historiker am Dokumentationszentrum der Sinti und Roma in Heidelberg, über Jahre hinweg ein deutlicher Sinneswandel statt: Die Bundesregierung förderte das Dokumentationszentrum, über hundert Erinnerungsorte, Gedenksteine und nach Roma benannte Straßen sind entstanden. Zudem kam es zu einer lokalgeschichtlichen Aufarbeitung, es entstanden  pädagogische Programme.

Und dennoch, auch auf deutscher Seite gibt es noch Nachholbedarf. Gemäß einer 2004 durchgeführten Studie der Landeszentrale für politische Bildung in Stuttgart stellt der sogenannte Porajmos, zu Deutsch „das Verschlingen“, also der Völkermord an den europäischen Roma, im deutschen Geschichtsunterricht noch immer ein Nischenthema dar. Auch Diskriminierung und fehlende Präsenz in den Medien zählt Reuter zu den bestehenden Problemen.

Luboš Velek ist überzeugt: „Es ist die Aufgabe der Historiker, Medien und Schulen, die Erinnerung an die grausame Vergangenheit wach zu halten.“ Auch in Tschechien existiert ein Bestreben, die Aufarbeitung des Roma-Genozids fortzuführen. Davon zeugen die existierenden Gedenkstätten in Lety und Hodonín genauso wie das Museum für Roma-Kultur in Brünn. Kulturelle Veranstaltungen und Aktionen weisen immer wieder auf dieses Thema hin. So gedenkt man im Prager Rudolfinum an diesem Sonntag mit einem „Requiem für Auschwitz“ an alle im Holocaust ermordeten Juden, Sinti und Roma. Wichtig sind auch Bemühungen gegen aktuelle Vorurteile. Denn nur eine positive Einstellung gegenüber der Roma-Minderheit ermöglicht – darüber sind sich die Experten einig – eine selbstreflektierte, kritische Bewältigung der eigenen Vergangenheit.