Prag abgefahren
Das Museum des Städtischen Nahverkehrs in Střešovice zeigt nicht bloß einen historischen Fuhrpark, sondern Prager Alltagskultur. Und es ist ein Ort zum Spielen
2. 10. 2013 - Text: Nancy WaldmannText und Foto: Nancy Waldmann
Michael, Mitte 40, kommt aus Leipzig und macht an einem sonnigen Sonntag einen Ausflug nach Prag. Nicht um die Burg oder die Uhr am Altstädter Ring zu sehen, auch nicht um Knödel zu essen. Michael will ins Straßenbahnmuseum. Schon als er durch die Stadt fährt, leuchten seine Augen: „Wow, die alten Karosa-Busse! Und da die neuen eleganten Dreitürer, ohne Gelenk, die baut SOR! Sowas kriegt man ja in Deutschland nicht zu Gesicht.“ Michaels Begeisterung liegt vielleicht auch darin begründet, dass er selbst Busfahrer ist. In Leipzig fährt er andere Bustypen, meistens Solaris. Die Marken-Landschaft des städtischen Nahverkehrs sieht in Tschechien anders aus als in Nachbarregionen wie Sachsen. Der Prager ÖPNV hat Tradition und es versteht sich von selbst, dass das Autoland Tschechien eigene Zugpferde für die Bus- und Straßenbahnflotten des städtischen Verkehrs hervorgebracht hat. Sie heißen Škoda, Tatra oder Praga.
Schon der Andersartigkeit dieses Fuhrparks wegen hat das Straßenbahnmuseum im Depot Střešovice für Prag-Besucher einen speziellen Mehrwert. Und es zieht nicht nur von Berufs wegen Interessierte wie Michael an. Eine Herrenrunde, ebenfalls deutsch sprechend, zieht durch den historischen Fahrzeugpark. Kurbeln an einer Vorrichtung. Klick! Ein Erinnerungsfoto, Pose auf den Trittbrettern des T1, einem Vorgängermodell der heutigen rot-weißen Straßenbahnwaggons. Rund 150 Besucher pro Öffnungstag zählt Museumsdirektor Milan Pokorný, rund zehn davon sprechen deutsch. Für sie sind die Exponate in einer extra Broschüre erklärt. Drumherum Eltern beim Sonntagsausflug mit wuselnden Kindern, die von einem Wagen zum nächsten hüpfen, am Lenkrad drehen, das eigentlich nicht mehr zu drehen geht und zischend und hupend Tramfahren spielen.
Erste Linie zum Theater
Das geht nur in den offenen Waggons, wie es sie noch bis zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts gab. Von Pferden wurden sie gezogen, ab 1875, auf einem Netz von nicht einmal 20 Kilometern – lächerlich im Vergleich zu heute, wo das reine Streckennetz 141 Kilometer umfasst. Die erste Linie der Pferdestraßenbahn diente auch der Nationsbildung, sie führte vom Arbeiterviertel Karlín zum damals noch im Bau befindlichen Nationaltheater, dem damals wohl wichtigsten Treffpunkt der tschechischen Öffentlichkeit. So erzählen viele Fahrzeuge eine Geschichte, die über die rein technische Entwicklung hinausgeht.
Auch die ersten komplett geschlossenen Waggons, gebaut 1893 im Smíchover Ringhoffer-Werk, sind im Depot Střešovice versammelt, damals noch in der militärisch wirkenden Khaki-Farbe gehalten. Zur gleichen Zeit experimentierte der Erfinder František Křižík mit neuen, schnelleren Antriebssystemen. Die Standseilbahn hoch zum Petřín fuhr mithilfe des Gegengewichts des bergab fahrenden Wagens, reguliert durch Wasserdruck – eine intelligente und für das bergige Gelände der Stadt effektive Technik, die ohne Strom funktionierte. Aber Křižík war Elektrotechniker und bastelte natürlich an einer elektrischen Antriebsvariante – und zwar mit Stromzufuhr von unten. Oberleitungen fand man damals unästhetisch, besonders die Karlsbrücke sollte nicht mit Strommasten verschandelt werden. So zogen hier noch bis 1905 Pferde die Bahn über die Brücke, wo andere Linien schon ein knappes Jahrzehnt lang elektrisch liefen. Für einige Jahre verkehrte schließlich eine Tram über die Karlsbrücke, mit Stromzufuhr von unten.
Meilenstein Metro
Křižík hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass ein paar Jahrzehnte später eine Metro-Station seinen Namen tragen würde, und damit ein Personentransportsystem eingeführt war, bei dem nicht nur die Stromversorgung, sondern auch Gleise und Bahnen unter die Erde verlegt worden waren, dort, wo keine anderen Verkehrsteilnehmer die Fahrt stören. Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Die ästhetischen Bedenken angesichts der Oberleitungen lösten sich früher auf: 1936 begann der Trolleybus-Verkehr in Prag, kurz vor Einweihung der ersten U-Bahn-Strecke wurde er bereits wieder stillgelegt.
Bis die Metro durch den felsigen und sandigen Untergrund der stetig wachsenden Großstadt rauschte, stand den Verantwortlichen jede Menge Arbeit bevor. Sitzungsprotokolle, Projektpläne und Zeitungsartikel dokumentieren die schwere Geburt von den ersten Entwürfen der Nachkriegszeit bis zur ersten Fahrt 1974. Noch beim Spatenstich in der Opletalova-Straße 1966 waren sich die Ingenieure uneins: Sollte man eine unterirdische Straßenbahn bauen, wie sie bereits während des Protektorats geplant war und bei der möglichst kurze Streckenabschnitte unter die Erde verlegt würden? Oder würde nicht ein vom Straßenverkehr komplett unabhängiges Metro-System nach sowjetischem Vorbild die Verkehrsprobleme der Stadt lösen? Dann kam der 9. August 1967, der Tag der Entscheidung über den Metro-Bau: „Für die einberufene Pressekonferenz brachen die meisten Journalisten ihren Urlaub ab“, behauptet ein Zeitungsartikel, dem man glauben kann, denn sensationell war dieser Beschluss nicht nur aus propagandistischer Sicht.
Dennoch wurde die Straßenbahn in Prag nicht abgeschafft, wie es die langfristigen Pläne vorsahen. Das Manko an diesem Ausstellungsteil: Es gibt kaum deutsch- oder englischsprachige Beschriftungen.
Musealisierte Angestellte
Michael, der Busfahrer und Fahrzeugliebhaber, hat sich längst in einen euphorischen Jungen verwandelt, wie es nur eine Umgebung wie diese bewirken kann. Weil er nicht nur Fahrzeuge findet, wie er das aus ähnlichen Museen kennt. „Man sieht Haltestellen, Fahrkarten, Kassenwagen für den Fahrkartenverkauf. Klasse!“ Das Depot zeigt Prager Alltagskultur. Straßenbahnwerbung der Jahrhundertwende von Suchard bis Odol, handgeschriebene Fahrpläne der achtziger Jahre. Auch die Angestellten der Verkehrsbetriebe wurden musealisiert: der Schaffner (bis 1974) – Filzuniform, Lochzange, Schnauzbart; der Bahnwärter – Blaumann, Bremssandschaufel, Schnauzbart.
Bevor der Besucher entlassen wird, ist er als Fahrgast gefragt: Wie sitzen Sie am besten? Probesitzen auf acht verschiedenen Modellen, vier davon Prototypen. Die Holzsitze sind am schönsten. Aber nach einem intensiven Museumsbesuch will man eigentlich lieber dösend auf den gut gepolsterten Bussitzen nach Hause schaukeln.
Museum des Öffentlichen Personennahverkehrs im Straßenbahndepot Střešovice, Patočkova 4, Prag 6, geöffnet bis zum 17. November, samstags, sonntags und feiertags 9 bis 17 Uhr und nach Absprache, Tel. 296 128 900 oder 296 128 923, Eintritt: 35 CZK, ermäßigt 20 CZK, www.dpp.cz/muzeum-mhd
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