Zwischen Verrat und Neuanfang
Zu innerparteilichen Grabenkämpfen ist es in der Geschichte der Sozialdemokraten schon oft gekommen. Teilweise hatten sie verheerende Folgen. Ein historischer Abriss
6. 11. 2013 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Bild: Mikoláš Aleš, 1890
Aus dem innerparteilichen Machtkampf der tschechischen Sozialdemokraten (ČSSD) scheint der Parteivorsitzende Bohuslav Sobotka als Sieger hervorzugehen. Einen Anteil daran haben auch diejenigen, die in der vergangenen Woche vor der Prager Burg für den Parteivorsitzenden und gegen seinen Stellvertreter und Widersacher Michal Hašek demonstrierten. Einige von ihnen erinnerten an die Geschichte der Sozialdemokraten, die von Grabenkämpfen, Zerwürfnissen und Spaltungen geprägt ist. Eine der folgenreichsten Episoden brachten zwei Studenten mit einem Transparent ins Bewusstsein. Die Aufschrift: „Hašek = Fierlinger“. Der einstige ČSSD-Vorsitzende und erste Ministerpräsident nach dem Zweiten Weltkrieg war mitverantwortlich für den Februarumsturz 1948 und die darauf folgende Zwangsvereinigung mit der Kommunistischen Partei (KSČ). Der „Verrat Fierlingers“ bedeutete eine Zäsur in der Geschichte der tschechischen Sozialdemokratie, die vor genau 135 Jahren begann und – abgesehen von den Tätigkeiten der Exilpolitiker und dem Wirken illegaler Gruppierungen im Inland – nach der politischen Wende 1989/90 weitergeschrieben wurde.
Gegründet 1878 innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, trat die „Tschechoslowakische Sozialdemokratische Partei“ vermehrt eigenständig auf und löste sich 1893 ganz von ihrer Mutterpartei. Die ersten zwei Dekaden ihres Bestehens lesen sich als wahre Erfolgsgeschichte. Trotz der Streitfrage über die Loslösung vom Habsburgerreich und der Abspaltung des auf Autonomie beharrenden Flügels (aus dem die Tschechische National-Soziale Partei hervorging) um die Jahrhundertwende fand die ČSSD breiten Zuspruch unter der tschechischen Bevölkerung. Vor allem die Arbeiterklasse fühlte sich von ihr am stärksten vertreten, was sich auch in dem Zusatz „Partei der Arbeiter“ widerspiegelte, den die Sozialdemokraten seit 1894 in ihrem Namen führten. Wie fast überall in Europa wohnte dieser großen Bevölkerungsgruppe wegen ihrer kritischen sozialen Lage ein hohes politisches Potential inne, das die ČSSD ausnutzen und bald zur mitgliederstärksten Partei in Böhmen und Mähren machen sollte. Nach der Einführung des von ihr stets geforderten allgemeinen Wahlrechts feierte sie schon bei den Reichsratswahlen im Jahre 1907 einen beachtlichen Erfolg: Fast 40 Prozent der Tschechen gaben den Sozialdemokraten damals ihre Stimme.
Kurzer Aufstieg
Während des Ersten Weltkrieges entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Anhängern von Parteichef Bohumír Šmeral, die für die Beibehaltung der Habsburgermonarchie eintraten, und den Befürwortern des späteren Präsidenten Tomáš G. Masaryk, die schließlich die Überhand gewannen und aktiv die Errichtung eines unabhängigen Staates unterstützten. In der Tschechoslowakischen Republik konnte die ČSSD an die Popularität der Vorkriegszeit anknüpfen, wurde bei den ersten Parlamentswahlen im Frühjahr 1920 mit 25,7 Prozent der Stimmen stärkste Partei und stellte mit Vlastimil Tusar den Ministerpräsidenten.
Der Aufstieg war nur von kurzer Dauer. Denn noch im Herbst jenes Jahres wandte sich der linke Flügel von der Partei ab, 23 der 74 Abgeordneten legten ihr Mandat nieder, die Regierung trat zurück. Einen großen Anteil an der neuerlichen Spaltung hatte der ehemalige ČSSD-Vorsitzende Šmeral, der nach dem verlorenen Machtkampf seine Partei im Zorn verlassen hatte und nach Verhandlungen mit Lenin in Moskau als Führungspersönlichkeit der marxistischen Linken auftrat. Es gelang ihm, viele seiner alten Parteigenossen um sich zu scharen und mit ihnen (sowie sowjetischer Unterstützung) im Mai 1921 die Kommunistische Partei zu gründen. Bereits vier Jahre später verbuchten die Abtrünnigen mit 13 Prozent der Stimmen ein besseres Ergebnis als die ČSSD selbst, die lediglich 9 Prozent erhielt. Die neu gegründete KSČ hatte die Sozialdemokratie erheblich geschwächt und einen großen Teil der ČSSD-Wählerschaft auf ihre Seite gebracht.
Vorläufiges Ende
Trotz dieser Destabilisierung waren die Sozialdemokraten in den Jahren 1929 bis 1938 an allen tschechoslowakischen Regierungen beteiligt. Infolge des Münchner Abkommens löste sich die Partei auf, einige Mitglieder beteiligten sich am Widerstand gegen das NS-Regime, andere vertraten die ČSSD in der Exilregierung unter Ministerpräsident Jan Šrámek in London. Im Frühjahr 1945 erneuerte sich die Partei in der „Nationalen Front der Tschechen und Slowaken“ und stellte mit Zdeněk Fierlinger den ersten Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg.
In den Parlamentswahlen 1946 blieb sie im tschechischen Landesteil mit 15 Prozent deutlich hinter den Kommunisten um Klement Gottwald zurück, auf die 40 Prozent der Stimmen entfielen. Fierlinger wurde zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt und erlebte als ČSSD-Vorsitzender an vorderster Front die innerparteilichen Auseinandersetzungen über den Umgang mit der KSČ. Aufgrund seiner Auffassung, die Sozialdemokraten müssten mit den Kommunisten geschlossen auftreten, wurde er auf dem Parteitag 1947 seines Amtes enthoben. Doch holte er in der Manier eines Putschisten im Februar 1948 zum Gegenschlag aus. Nachdem Innenminister Václav Nosek (KSČ) die nichtkommunistischen Polizeichefs abgesetzt hatte und daraufhin die Regierungsmitglieder, die nicht der KSČ angehörten, mit einem geschlossenen Rücktritt Neuwahlen herbeiführen wollten, war es Fierlinger, der dafür sorgte, dass die ČSSD als einzige der vier Parteien in der Regierung verblieb.
Damit ebnete er den Kommunisten den Weg zur Alleinherrschaft; am 25. Februar 1948 vereidigte Präsident Beneš eine Regierung, die Gottwalds Vorstellungen entsprach. Fierlinger durfte bleiben. Seine Partei hingegen nicht. Die Sozialdemokraten wurden im Juni 1948 den Kommunisten einverleibt.
Gegen den Zusammenschluss stimmten über 200.000 der damals 370.000 ČSSD-Mitglieder, am vorläufigen Ende der Partei – zumindest auf tschechoslowakischem Boden – änderte dieser Protest nichts. Zahlreiche Sozialdemokraten wurden in den Schauprozessen der fünfziger Jahre zu langen Haftstrafen verurteilt oder wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ umgebracht. Die Bestrebungen während des Prager Frühlings, die Sozialdemokratie wiederzubeleben, wurden von den sowjetischen Machthabern im Keim erstickt. Erst am 25. und 26. März 1990 gelang der ČSSD an symbolträchtiger Stätte der Neuanfang: In einem Wirtshaus im Prager Stadtteil Břevnov, wo bereits am 7. April 1878 die konstituierende Sitzung der „Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei in Österreich“ erfolgte, kam es zur Vereinigung zwischen den Exilanten um Jiří Horák und den „unabhängigen Sozialisten“ um Rudolf Battěk zur neu-alten Partei.
Zurück zu alter Stärke
Horák wurde zum ersten Parteivorsitzenden gewählt; mit knapp acht Prozent der Stimmen schaffte sie 1992 den Sprung ins Abgeordnetenhaus. Nach der Trennung des tschechoslowakischen Staates führte sie Miloš Zeman zu alter Stärke und gewann 1998 mit über 32 Prozent die Parlamentswahlen. Die ČSSD hat inzwischen wieder die Rolle eingenommen, die sie bereits zu Beginn der zwanziger Jahre innehatte: Sie ist die führende Kraft im linken Parteienspektrum. Eine Regierungszusammenarbeit mit der KSČM, die sich als Nachfolgerin der KSČ versteht, dürfe es laut einem 1995 im mährischen Bohumín gefassten Parteitagsbeschluss niemals geben. Inzwischen ist die damals getroffene Entscheidung zumindest auf regionaler Ebene im vergangenen Jahr missachtet worden.
Anm. d. Red.: Im Laufe ihrer 135-jährigen Geschichte änderte sich einige Male das Parteikürzel der Sozialdemokraten. Zur besseren Verständlichkeit wurde im Artikel ausschließlich die aktuelle Abkürzung ČSSD verwendet.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“