Autonomie statt Aufsicht

Autonomie statt Aufsicht

Europas Atomkraftwerke sollen stärker kontrolliert werden. Tschechien sieht dafür jedoch weiterhin keinen Grund

6. 11. 2013 - Text: Adem FerizajText: Adem Ferizaj; Foto: szerenka

Die Europäische Kommission will die Atomkraftwerke in den EU-Mitgliedstaaten strenger und nach einheitlichen Kriterien kontrollieren. Die vorgeschlagene Richtlinien stoßen jedoch in vielen Staaten auf Ablehnung, vor allem in Tschechien. Das betonte Regierungschef Jiří Rusnok einmal mehr beim jüngsten Treffen der Visegrád-Gruppe in Budapest und fand dabei Rückhalt bei seinen Amtskollegen aus Ungarn, Polen und der Slowakei (die „Prager Zeitung“ berichtete). Die Autonomie der Staaten in energiepolitischen Fragen dürfe von der Europäischen Union nicht untergraben werden, waren sich die Regierungschefs einig. Tschechien fürchtet zudem, das Vorhaben der EU gefährde die Wettbewerbsfähigkeit im Energiesektor und die kostengünstige Stromversorgung des Landes. In der vergangenen Woche hat sich auch die obere Kammer des tschechischen Parlaments gegen die Vorschläge ausgesprochen. Nach Meinung der Senatoren führe die Novelle lediglich zu höheren Kosten, nicht jedoch zu mehr Sicherheit.

Angst vor Kompetenzverlust
Die Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 blieb in Brüssel nicht ohne Widerhall: Die Zusammenarbeit auf energiepolitischer Ebene müsse auf eine neue Ebene gestellt werden. Im Juni dieses Jahres, mehr als zwei Jahre nach dem Reaktorunglück, legte die EU-Kommission die geänderten Richtlinien vor. Ein wesentlicher Punkt ist dabei die Einführung strengerer Sicherheitsstandards der Reaktoren in den einzelnen Mitgliedstaaten. Dafür soll eine europäische Aufsichtsbehörde für Atomkraftwerke eingerichtet werden, die die Meiler mindestens alle sechs Jahre kontrolliert. Zudem schlug der für Energiefragen zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger vor, ab dem kommenden Jahr eine europaweite Haftpflichtversicherung für sämtliche Atommeiler im Fall von Reaktorunfällen einzuführen. Aus den beiden Vorschlägen ergibt sich das Streitthema: Die nukleare Stromerzeugung in den EU-Staaten würde zunehmend in den alleinigen Aufgabenbereich der Europäischen Kommission fallen. Nationale Kompetenzen in diesem Bereich müssten also aufgegeben werden.

Dass Brüssel die neue Richtlinie als eine Lehre aus Fukushima verstanden sehen will, kann man in Prag nicht nachvollziehen. „Warum sollten wir deswegen unsere Sicherheitsstandards ändern? Für neue Gesetze sehe ich absolut keinen Grund“, sagt der stellvertretende Wirtschaftsminister Pavel Šolc im Gespräch mit der „Prager Zeitung“ und gibt damit den Standpunkt der Regierung Rusnok und den seines Vorgängers Nečas wieder.

„Wir haben keine Alternative“
Severin Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin versteht, dass das Land den Vorstoß der EU ablehnt. Denn ein Atomstrom-Land wie Tschechien trete die Zuständigkeiten nur ungern an die EU ab, so der Experte für EU-Energiepolitik. Es habe den hohen Anspruch, bei der Stromversorgung unabhängig von anderen Ländern zu bleiben. Deswegen setze es auch verstärkt auf die Atomkraft. „Das Gefühl, durch die eigene Stromerzeugung autonom sein zu können, spielt für die Tschechen eine wichtige Rolle“, meint Fischer. Bei Vize-Minister Šolc klingt das folgendermaßen: „Atomstrom ist unsere einzige Möglichkeit. Wir haben keine Erdgas- oder Erdölvorkommen wie andere Länder. Außerdem neigen sich unsere Kohlereserven dem Ende zu. Wir haben keine andere Alternative“.

Diese Position wird von der Bevölkerung weitestgehend geteilt. In keinem anderen EU-Land ist die Pro-AKW-Haltung in der Bevölkerung so verbreitet wie in der Tschechischen Republik. Das geht aus einer 2011 veröffentlichten Studie der Heinrich-Böll-Stiftung hervor.

Für die atomfreundliche Einstellung der Tschechen sprechen demnach vor allem die Wettbewerbsfähigkeit und langfristige Gewährleistung der Energieversorgung. Atomstrom schaffe zudem Arbeitsplätze und sei gleichzeitig ein Exportprodukt.

Starke Interessengruppe
Auch die tschechischen Medien stoßen in das gleiche Horn: Die Atomkraft decke problemlos den steigenden Energiebedarf und sei die günstigste Energiequelle, was vor allem den Konsumenten zugute käme, lauten die gängigen Argumentationen. „Diese Debatte unterschlägt aber, welchen Faktoren man welche Tragweite zuschreibt“, betont Energieexperte Fischer. Aus Atomenergie gewonnener Strom mag im Vergleich zur alternativen Erzeugung zwar billiger sein. Er birgt aber auch immer das Risiko immenser Schäden im Falle eines Reaktorunglücks. Wer behaupte, durch Kernenergie könne am günstigsten Strom erzeugt werden, dürfe nicht außer Acht lassen, dass die Konstruktion eines Reaktors mit einem exorbitant hohen finanziellen Aufwand verbunden ist, so Fischer.

Ein weiterer Grund für Tschechiens Festhalten am Atomstrom sei die enge Verflechtung zwischen Staat und Privatwirtschaft – in den Staaten des ehemaligen Ostblocks ein verbreitetes Phänomen. Der größte tschechische Energiekonzern ČEZ gehört zu zwei Dritteln dem tschechischen Staat. Dementsprechend verfügt die Kernenergie in politischen Kreisen über eine starke Lobby.

Folgen eines GAUs
Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Tschechen eine Havarie eines ihrer Atomkraftwerke ausschließt, haben sich Fischer und sein Kollege Kai-Olaf Lang mit diesem Szenario befasst. In ihrer erst kürzlich erschienenen Studie „Ungeplant bleibt der Normalfall. Acht Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen“ malen sich die Forscher die möglichen Folgen eines Reaktorunglücks im südböhmischen Atomkraftwerk Temelín aus. Sie kommen zum Schluss: Selbst nach einem Reaktorunglück im eigenen Land bliebe fraglich, ob die Regierung in Prag die nukleare Energiegewinnung aufgeben würde. Eine solche Haltung hätte auch für die deutsch-tschechischen Beziehungen katastrophale Folgen. „Insgesamt kühlen unter diesen Bedingungen die bilateralen Kooperationsbeziehungen ab und die politischen Kontakte dünnen aus“, prophezeien die Experten Fischer und Lang.