Das Recht, etwas zu erzählen
Studienplätze an der Prager Filmschule FAMU sind begehrt. Die Schweizerin Fiona Ziegler schaffte als eine von wenigen aus Westeuropa den Sprung an die Bildungsstätte und lernt in tschechischer Sprache Regie
5. 12. 2013 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Foto: Stanislas Tryputen
Treppenhaus und Flure sind verwaist. Nur ab und zu huscht ein Student über den knarrenden Parkettboden. Im Hauptgebäude der Film- und Televisions-Fakultät der musischen Künste (kurz: FAMU) herrscht keineswegs Betriebsamkeit, wie man es sonst in einer Hochschule erwarten würde. In einer kleinen Ecke im obersten Stockwerk künden schwarze Spuren ausgedrückter Zigaretten auf dem steinernen Geländer vom stressigen Studentenalltag. „Rauchen ist hier ziemlich wichtig. Das Klischee des rauchenden Filmemachers – es ist keines“, erklärt Fiona Ziegler.
Die 30-jährige Schweizerin studiert an der FAMU. Das ist nichts Außergewöhnliches, denn die weltweit renommierte Filmschule bietet auch Lehrgänge auf Englisch an. Eine ansehnliche internationale Studentenklientel nimmt dieses Angebot für entsprechend hohe Gebühren wahr. Fiona Ziegler nicht, sie lernt Regie auf Tschechisch – eine Sprache, die für sie bis vor zwei Jahren noch so weit weg war wie ein Platz an dieser Schule.
Ziegler ist die einzige Westeuropäerin ohne familiäre Wurzeln im slawischen Sprachraum, die in der tschechischen Abteilung der FAMU eingeschrieben ist. 2009 legte sie in Genf ihren Master in Internationaler Politik und Geschichte ab. Eine Beamten-Karriere im Außenministerium, bei der UNO oder im Diplomatischen Corps der Schweiz wäre für die meisten nun der nächste Schritt gewesen. Doch es kam anders. „Das hätte mich an einen Schreibtisch oder in ein Großraumbüro geführt, meinem Wesen aber nicht entsprochen“, erzählt Ziegler. Ihr wurde bald klar, dass sie ihrer wahren Leidenschaft folgen müsse. Und diese gilt dem Film.
Die junge Bernerin spricht in typischem Akzent mit den langgezogenen Vokalen und blickt etwas gedankenverloren aus einem Fenster in der Regie-Abteilung der FAMU. Sie gibt sich selbstsicher, wenn sie davon erzählt, wie viel Mut sie aufbringen musste, um von diesem vorgezeichneten Weg abzukommen. Gerade in der reichen Schweiz verstünden nur die wenigsten, warum man in eine osteuropäische Stadt geht, um dort in eine derart unsichere Branche wie das Filmgeschäft einzusteigen. Die Klischees über die ehemaligen Ostblockstaaten überleben in zahlreichen Köpfen und im Gemeinsinn, auch 24 Jahre nach dem Mauerfall. „Dass Tschechien, vor allem Prag, eine europäische Kulturhochburg ersten Ranges ist, auch und vor allem historisch gesehen, das weiß der Durchschnittsschweizer nicht.“ Dementsprechend runzeln die Menschen zuhause erstaunt die Stirn, wenn Ziegler davon erzählt, was und wo sie studiert. Von Eltern wie Freunden bekam sie aber stets Rückendeckung. Obwohl der Vater zunächst ordentlich staunte.
Sie selbst entdeckte Prag erst über den Film. Oder genauer: über den serbischen Regisseur Emir Kusturica. Bei Recherchen über ihn stieß Ziegler auf die Information, dass er sein ganzes Können an der Prager FAMU erlernte. Das Interesse war geweckt. „Bald informierte ich mich genauer über diese Schule. Und von da an war es nicht mehr weit zur Tschechoslowakischen Neuen Welle, die mich schnell in ihren Bann zog“, so Ziegler.
Passender Resonanzraum
Nachdem sie sich bereits 2010 dazu entschied, Film zu studieren, schrieb sich Ziegler vorerst nur für ein Jahr an der FAMU ein – allerdings für die englischsprachige Sektion. Die rund 12.000 Euro Jahresgebühr aber konnte sie sich auf Dauer nicht leisten. So kam ihr die Idee, das Studium auf Tschechisch aufzunehmen, denn sie merkte schnell, dass sie hierher gehört. „Hier hatte ich das Gefühl, verstanden zu werden, mehr als zuhause. Meine Filmsprache ist eher poetisch. In Prag finde ich für meine Ideen den richtigen Resonanzraum. In der Schweiz schauen Filmemacher mehr auf technische Dinge, Spezialeffekte, etwas trockenere Plots, die meist eher oberflächlich sind. In Tschechien geht das Kino, die Kultur allgemein, viel mehr in die Tiefe; es wird viel mehr philosophiert, gelesen und über Grundlegendes diskutiert als bei uns.“
So kam sie 2012 zurück nach Prag. Ihren alten internationalen Kommilitonen erzählte Ziegler lange nichts von ihrem Vorhaben. Sie schämte sich, weil sie dachte, alle würden sie für verrückt halten. Niemand, der kein Muttersprachler ist oder Tschechisch auf sehr hohem Niveau spricht, würde es schaffen, das hohe Anforderungsprofil zu erfüllen. Ziegler versuchte es trotzdem. Jedes Jahr bewerben sich über 100 junge Menschen um einen Platz im Fach Regie – nur fünf werden aufgenommen. In ihrem Jahrgang machte man eine Ausnahme und bot sechs Studenten die Möglichkeit, ihre Ausbildung an der Schule zu absolvieren. Zu den Bewerbungsunterlagen gehören unter anderem Filmproben sowie ein Autoporträt. Ziegler kam durch die erste Runde und musste daraufhin eine harte Prüfungswoche absolvieren.
Der Geist der Sprache
Die damals 28-Jährige stand vor einer Herkulesaufgabe. Sie wollte aber unbedingt auf Tschechisch studieren, weil sie damit auch den Geist der Sprache, der Kultur und der Mentalität in sich aufnehmen könnte. „Tschechisch ist eine sehr komplexe und zugleich klar strukturierte Sprache, ähnlich wie Deutsch. Man kann sehr feinfühlig damit umgehen und sich sehr genau ausdrücken. Das macht es natürlich auch enorm schwierig für mich, alles und vor allem richtig zu verstehen.“
Zur Aufnahmeprüfung nahm sie eine zweisprachige Bekannte aus der Schweiz mit, die Tochter eines tschechischen Emigranten. Diese studierte damals an der FAMU das Fach Dokumentation. Somit hatte Ziegler eine Dolmetscherin, die sie für die schriftlichen und vor allem auch mündlichen Tests dringend brauchte. „Diese Prüfungen zu absolvieren, war wohl das Herausforderndste, das ich jemals auf mich genommen habe“, schwelgt Ziegler mit gemischten Gefühlen in ihren Erinnerungen. Sie übersprang die Hürde. Im mittlerweile dritten Semester sitzt sie nun, offensichtlich zufrieden mit sich und ihrem Leben, im FAMU-eigenen Pub. Den tschechischen Gepflogenheiten entsprechend bestellt sie ein Bier und dreht sich eine weitere Zigarette.
Die Filme, die sie bisher produzierte, kamen ohne viel Dialoge aus. Es ging ihr ums „Zeigen“, nicht um das „Erklären“. Möchte sie denn auch Filme auf Tschechisch drehen? „Ziel ist es durchaus, nach dem Abschluss hier zu bleiben und dem Land, der Stadt, der Kulturszene etwas zurückzugeben. Da fühle ich mich verpflichtet.“ Ziegler verweist immer wieder auf die Zweifel, die an ihr nagten. Die Fragen, die sie sich stellt, lauten unter anderem: „Habe ich eigentlich das Recht, etwas zu erzählen?“ oder „Habe ich das Recht, ein derart manipulatives Medium zu benutzen und meine Gedanken einem breiten Publikum zugänglich zu machen?“
Geliebte Antihelden
Ihr kritisches Denken möchte sie auch in ihre Arbeit einfließen lassen. Es soll nicht nur eine poetische und eindringliche Bildsprache sein, eine „L’art pour l’art“. Konkret heißt das für sie: „Mich interessieren vor allem Filme mit Fokus auf das Hier und Jetzt, ernsthaft, kritisch, aber auch mit einem Lächeln vorgetragen.“ Der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und sich in die politische Diskussion einzumischen, gehört für Ziegler mit zur Funktion von Kulturschaffenden.
Ihren eigenen Charakter bezeichnet sie im Gegensatz dazu als eher zurückhaltend. „Ich denke, da bestehen gewisse Parallelen zu den Tschechen“, sinniert Ziegler über Gemeinsamkeiten und Differenzen von neuer und alter Heimat. In der Schweiz fühlt sie sich als Außenseiterin. Und sie findet, dass viele Tschechen sich und ihr Land permanent in der Außenseiter-Rolle wähnen. Damit kann sich die angehende Regisseurin identifizieren: „Die Tschechen zeigen sich menschlicher, verletzlicher, streben weniger nach dem Perfekten und sind somit authentischer. Und genau das spiegelt sich auch in der Kultur und in vielen Filmen wider. Auch wenn dies hierzulande von einigen nicht so gern gesehen wird, wenn zum Beispiel Bohdan Sláma einen trinkenden Arbeiter aus der Provinz zu seinem Filmhelden macht. Doch genau das gefällt mir: diese Selbstironie. Antiheld sein und gerade deshalb geliebt zu werden. Bei uns in der Schweiz ist es vor allem wichtig, der Held des eigenen Lebens zu sein und dieses, den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechend, erfolgreich zu gestalten.“
Allerdings: Was das angeht, sieht es derzeit ganz danach aus, als würde Ziegler auch jene von ihr hinterfragten Anforderungen bestens erfüllen. In kürzester Zeit hat sie ihre Sprachkenntnisse erheblich erweitert und unterhält sich inzwischen fast schon selbstverständlich auf Tschechisch. Darüber hinaus meisterte sie alle schulischen Aufgaben und produzierte zwei Kurzfilme. Für beide erhielt sie die Bestnote in ihrer Klasse.
Fiona Ziegler hat es geschafft. Sie fühlt sich wohl in der tschechischen Hauptstadt. Vor dem unscheinbaren Eingangsportal der FAMU, neben dem altehrwürdigen Kaffeehaus Slavia, stehen die Studenten in der klirrenden Kälte, wippen von einem Bein aufs andere und zünden sich Zigaretten an. Der Druck und der Stress dieser Eliteschule lässt niemanden kalt. Leider darf man im Innenraum der Schule nicht mehr rauchen – so verlegt sich die größte Betriebsamkeit in die gemeinsame Zigarettenpause. Wie könnte es auch anders sein bei angehenden Filmemachern?
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