Kohle ohne Limit?
Die Bewohner von Horní Jiřetín bangen seit 20 Jahren um ihre Häuser. Nun will sie Premier Rusnok dem Tagebau opfern
11. 12. 2013 - Text: Martin NejezchlebaText und Foto: Martin Nejezchleba
Immer dann, wenn in den Radionachrichten und Fernsehdiskussionen über „Förderlimits“ gesprochen wird, setzt sich die Rentnerin Jarmila Křížová an ihren Rechner. Unermüdlich schreibt sie E-Mails an Senatoren und Abgeordnete, beantwortet Anfragen von Journalisten, schreibt Kommentare. Wenn die 60-Jährige mit den rot gefärbten Haaren über ihre Weihnachtsbeleuchtung durchs Fenster in die diesige Abenddämmerung blickt, kann sie die Bedrohung sehen: die Braunkohlegrube der Tschechoslowakischen Armee (Lom Československé armády). Die Fördergrenze verläuft wenige Meter hinter ihrem Gartenzaun. Ein Dickicht aus Birken und kümmerlichem Gestrüpp hat die Rekultivierung dort, wo die Kohle bereits vor Jahrzehnten aus der Erde geholt wurde, hinterlassen.
Beschluss 444
„Das Thema kommt immer wieder“, sagt Křížová mit leichtem Lispeln. Sie spielt dabei nervös an ihrem türkischen Kaffee herum, sodass die schwarze Brühe hochschwappt und den Kaffeesatz bis an den Rand des Glases trägt. „Vor allem dann, wenn gerade eine Übergangsregierung an der Macht ist. Denn die müssen ihre Schritte nicht vor den Wählern verantworten.“
1991 beschloss Jarmila Křížová gemeinsam mit ihrer Familie, das Elternhaus ihres Mannes am Ortseingang von Horní Jiřetín (Obergeorgenthal) zu renovieren und dort zu wohnen. Damals hatte die tschechische Regierung unter Petr Pithart den Beschluss Nummer 444 verabschiedet und somit die Gebietsgrenzen für die Förderung von Braunkohle in Nordböhmen definiert. Das sollte die großflächige Zerstörung der Landschaft in der Ebene unterhalb des Erzgebirges stoppen und den Bewohnern eine langfristige Lebensperspektive bieten. Ihre Dörfer und Städte sollten stehen bleiben.
Seither bemühen sich Politiker und Tagebau-Betreiber, den Beschluss zu kippen. Im Moment versucht sich daran die Übergangsregierung von Jiří Rusnok. „Die Förderlimits als solche, der Regierungsbeschluss, sind heute überwunden und können ein bremsendes Element darstellen“, sagte der Regierungschef Ende November in Most (Brüx). Seine Regierung erwäge die Abschaffung der Fördergrenzen, schließlich gehe es um Arbeitsplätze im Bergbau. Die seien wichtig für die strukturschwache Region.
Als Jarmila Křížová die Worte des Premiers zu Ohren bekam, holten sie die Angstzustände, die Panikgefühle wieder ein. Mit 30 Jahren, musste sie mit ihren Töchtern ihr Haus in Dolní Jiřetín (Untergeorgenthal) räumen. Dann kamen die Abrissbagger, später die gigantischen Schaufelradbagger. Jahrelang wollte sie den Boden, auf der einst ihr Haus und die barocke Kirche von Dolní Jiřetín standen, nicht betreten. Zu tief sitzt der Schmerz über den Verlust der Heimat. Damals wurde keiner gefragt. Die Familie wurde wie so viele in einen Plattenbau im benachbarten Janov (Johnsdorf) verfrachtet. Křížová wohnt jetzt seit zehn Jahren in direkter Nachbarschaft zur Fördergrenze und kämpft dagegen, dass wieder die Bagger kommen, die erst ihr Haus und dann die ganze Stadt niederreißen.
Heute haben es die Bergbauunternehmen nicht ganz so leicht: Zunächst gilt es die Förderlimits abzuschaffen, dann müssen sich die Firmen mit den Bewohnern über die Entschädigung einigen. Die Möglichkeit der Enteignung wurde Anfang 2012 aus dem tschechischen Bergbaurecht gestrichen. Und dennoch: der ständige Druck, die Ungewissheit, das hinterlässt Spuren an Psyche und Gesundheit, nicht nur bei Jarmila Křížová. Der Kampf gegen die Kohlebarone – wie hier jeder die Betreiber der Gruben nennt – ist die Therapie der 60-Jährigen.
Aufklärung auf dem Schloss
Als Vladimír Buřt die hölzernen Fensterläden öffnet, wird das gesamte Ausmaß der Verwüstung deutlich. Von hier oben, vom barocken Schloss Jezeří (Schloss Eisenberg) aus, eröffnet sich ein Panorama, das an Mordor, dem „Schwarzen Land“ aus J. R. R. Tolkiens Fantasy-Romanen, erinnert. Gelbe Schaufelbagger graben sich dort ihren Weg durch die schwarz glänzende Einöde, Rauch steigt aus den Schloten von Heizkraftwerken und Chemiefabriken.
„Das Schloss trägt enorm zur Aufklärung der Leute bei“, brummelt Buřt, stellvertretender Bürgermeister für die Grünen, durch seinen grau-weißen Bart. Er selbst hat jahrelang mit seiner Lebensgefährtin, der Kastellanin von Eisenberg, auf dem Schloss gewohnt, das auf einem Ausläufer der böhmischen Erzgebirgshänge steht. Viele Besucher seien schockiert, wenn sie zum ersten Mal auf das geschundene Tal blickten. Buřt ist den Ausblick gewohnt. Dass die schwarze Landschaft auch seine 750 Jahre alte Stadt Horní Jiřetín und die Ortschaft Černice verschluckt und 500 Meter vor den Häusern der 27.000-Einwohner-Stadt Litvínov (Oberleutensdorf) haltmacht, damit will sich der 49-Jährige nicht abfinden.
Buřt deutet aus dem Schlossfenster auf die Schlote des Chemiewerks Unipetrol. „Das ist das, was die Braunkohlefirmen reizt.“ Auf dem Gebiet von Horní Jiřetín und Černice sei nicht mehr viel zu holen – die Vorräte seien in 150 Jahren Tiefbau stark dezimiert worden und das Braunkohlelager nicht besonders groß. Das Gebiet, auf dem 2.000 Menschen leben und das 800 Arbeitsplätze bietet, sei für die Kohlefirma „Severní energetická“ lediglich Durchgangsgebiet zum Areal des Chemiewerks. Damit würden mehr als 4.000 Arbeitsplätze zugrunde gehen. Die Befürworter der Ausweitung allerdings verweisen darauf, dass dies erst in Jahrzehnten passieren würde und die polnischen Betreiber des Chemiewerks sowieso planen, das Werk zu schließen.
Exportweltmeister Tschechien
Für die Ausweitung des Tagebaus unterhalb des Erzgebirges hat sich auch Staatspräsident Zeman ausgesprochen. Ohne die Abschaffung der Förderlimits seien 8.500 Arbeitsplätze in der Region gefährdet. Zudem könne man so die Energieunabhängigkeit Tschechiens stärken.
Jan Rovenský, Leiter der Greenpeace-Kampagne „Klima und Energie“, hält diese Angaben für irreführend. „In diesem Moment ist Tschechien der drittgrößte Stromexporteur weltweit. Wir führen jährlich mehr Energie aus, als alle tschechischen Haushalte gemeinsam verbrauchen“, sagt Rovenský. Zudem seien in der Region heute lediglich 2.500 Leute im Bergbau beschäftigt.
Glaubt man Jarmila Křížová, dann sind das für Förderfirmen und Politiker, die sich für die Abschaffung der Limits einsetzen, keine Argumente. Es gehe ihnen um nichts anderes als das schnelle Geld. Mit diesem hätten die Förderunternehmen auch schon viele zum Verkauf und Wegzug aus Horní Jiřetín bewogen.
Bei den vergangenen Kommunalwahlen gewann die politische Bewegung „Dialog“ 30 Prozent der Wählerstimmen in der Stadt. Ihr Vorsitzender Petr Leichner sagt, die Regierung würde schon wissen, was sie tut. Sie suche den Dialog mit den Kohlefirmen – und falls die Limits fallen, auch eine Einigung über Entschädigung und Abriss. Rusnok habe zwar kein Mandat dafür, aber andere Regierungen würden diesen unpopulären Schritt nun mal nicht wagen, sagt Leichner.
Gegen eine Abschaffung der Förderlimits durch die Übergangsregierung haben sich bereits Teile der ČSSD, die Christdemokraten sowie die Babiš-Partei ANO ausgesprochen – und vor wenigen Tagen auch Miloš Zeman. Eine derart strategische Entscheidung dürfe keine Regierung ohne politisches Mandat treffen, ließ Zeman vor wenigen Tagen von sich hören. Jarmila Křížová nennt das ein Lippenbekenntnis. Und auch wenn die Limits in diesem Jahr nicht fallen: Sie ist sich sicher, dass die Ruhe nicht lange währen wird.
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