„Die tschechische Wissenschaft ist aus dem Gleichgewicht geraten“
Der Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften erklärt, warum die Forschungslandschaft Kopf steht
14. 11. 2012 - Interview: Martin Nejezchleba, Titelbild: AV ČR
Während immer mehr deutsche Firmen den Forschungsstandort Tschechien für sich entdecken, fürchten Akademiker und staatliche Institutionen um die Zukunft der hiesigen Wissenschaft. Von Professor Jiří Drahoš, Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften, erfuhr PZ-Redakteur Martin Nejezchleba, wie es um die Konkurrenzfähigkeit der tschechischen Wissenschaft bestellt ist.
Herr Drahoš, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind vergangenes Jahr um ein Fünftel gestiegen. Andererseits bleibt deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt weiter unter dem EU-Durchschnitt. Unternimmt die Regierung genug, um aus Tschechien einen konkurrenzfähigen Wissenschaftsstandort zu machen?
Drahoš: Nicht nur, dass Tschechien unterhalb des EU-Durchschnitts bleibt. Die Investitionen sind gemessen an der europäischen Spitze – die bilden vor allem die skandinavischen Länder – sehr niedrig. Der Anstieg, den Sie nennen, gibt auf den ersten Blick Hoffnung, aus Sicht der Grundlagenforschung und angewandten Wissenschaft ist die Lage jedoch nicht ganz so rosig. Steigende Ausgaben ändern nämlich nichts an der Tatsache, dass die Firmen 98 Prozent der Gelder in ihre eigene Forschung stecken und so gut wie nichts davon in die Forschung an Hochschulen und in die öffentlichen Institutionen fließt. Zudem schöpft die Privatforschung fast ein Drittel der gestiegenen Staatsausgaben ab. Ausländische Quellen dienen vor allem der Finanzierung von Infrastruktur-Projekten.
Was sollten die Politiker also konkret ändern?
Drahoš: Ich schätze zwar, dass die Regierung im Bereich Wissenschaft und Forschung nicht weiter kürzen will. Im Hinblick auf das schlechte Abschneiden im europäischen Vergleich sollte sie die Ausgaben aber eher steigern. Außerdem sollte der Staat genau kontrollieren, wie seine Investitionen im Privatsektor genutzt werden. Immerhin frisst dieser rund 20 Prozent der öffentlichen Ausgaben. Das ist mehr als das Doppelte des EU-Durchschnitts! Staatliche Unterstützung von industrieller Forschung sollte auf konkrete Aktivitäten kleinerer und mittlerer Unternehmen beschränkt werden, die die Chance haben, auf internationalem Niveau zu bestehen.
Nun hat es sich die Regierung zum Ziel gemacht, Innovation im Privatsektor zu fördern. Ist dies generell ein Schritt in die richtige Richtung? Was hat das für Auswirkungen auf die tschechische Wissenschaft im Allgemeinen?
Drahoš: In Folge unüberlegter Entscheidungen ist die tschechische Wissenschaft aus dem Gleichgewicht geraten. Leidtragende sind institutionell finanzierte Forschungsorganisationen. Gleichzeitig ist der Anteil an zweckgebundener Finanzierung von Projekten, die sich vor allem der experimentellen Entwicklung und Innovation widmen, unverhältnismäßig gestiegen. Keine Frage: Unser Land braucht kommerzielle Forschung, Innovationen sowie den Wissens- und Technologietransfer. Es ist aber dringend notwendig, eine feste und qualitative Basis in der Grundsatzforschung zu sichern. Die Industrie beschwört die Innovation, weiß aber oft nicht, wie und was es eigentlich zu innovieren gilt. Die Verantwortung für den unzulänglichen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis wird in Tschechien dann zu Unrecht den Akademikern angekreidet. Wenn wir ins Ausland schauen – etwa in die in diesem Zusammenhang gerne genannten USA – so stellen wir fest, dass die dortigen Unternehmen die Fähigkeiten der Grundsatzforschung schätzen, innovative Ideen zu produzieren. Keiner erwartet, dass dort fertige Patente, Prototypen und Lizenzen fabriziert werden.
Momentan zieht es immer mehr ausländische Firmen nach Tschechien, die hier ihre Forschungszentren aufbauen. Ist das für die tschechische Wissenschaft nicht positiv?
Drahoš: Der Bau von Forschungszentren ausländischer Firmen ist sicher notwendig. Ich befürchte jedoch, dass die Zahlen in Wirklichkeit nicht so hoch sind. Die Firmen haben meist die Tendenz, ihre Forschung in ihren ausländischen Zentralen zu konzentrieren. Es gibt allerdings Ausnahmen, die die Regel bestätigen, etwa die Forschungseinrichtungen der Firma Siemens in Tschechien.
Eine größere Unterstützung des Privatsektors bei gleichzeitigem Senken des Haushaltsdefizits wird wohl zu Kürzungen bei öffentlichen Forschungseinrichtungen führen. Welche Folgen hätte das für die Akademie der Wissenschaften?
Drahoš: Ich hoffe stark, dass die Regierung die Höhe der Unterstützung für den Privatsektor noch überdenkt. Vor allem weil bislang nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt werden konnten. In entwickelten Ländern ist die Sache genau umgekehrt: Firmen unterstützen angewandte Wissenschaft und Grundlagenforschung an Hochschulen und im staatlichen Sektor. Die Akademie der Wissenschaften muss seit 2009 mit sinkenden Haushalten zurecht kommen. Der Preis dafür sind Einsparungen bei Ausstattung und Personal. Ich fürchte, dass bei weiteren Kürzungen unsere Konkurrenzfähigkeit ernsthaft in Gefahr gerät. Das gilt auch für den Wettbewerb um nationale und europäische Mittel. Die tschechische Wissenschaft würde unwiederbringlich Schaden nehmen.
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