Am helllichten Tag

Am helllichten Tag

Eine kleine Geschichte der Prager Fensterstürze

22. 1. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: APZ

Wer Prag besucht, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, wird um das urböhmische Phänomen Fenstersturz nicht herumkommen. Denn Fensterstürze gehören zu Prag wie das Fensterln zu Bayern. Und einer von ihnen ereignete sich auf der Burg, deren Besuch sogar in jedes Programm, das frech „Prag in einem Tag“ verspricht, prominent eingebaut ist. Doch diesem Fenstersturz sind andere vorausgegangen, die für die Betroffenen tragisch endeten.

Wie so oft in der Geschichte gilt auch hier: Was als Tragödie in die Geschichte trat, nimmt bei seiner Wiederholung komödiantische Züge an. Auch deshalb eignet sich der Fenstersturz auf der Prager Burg des Jahres 1618 besser zur Belustigung von Touristengruppen als die früheren Stürze, deren detailgetreue Schilderung bei gefühligen Damen gelegentlich spitze Schreie des Entsetzens auslösen kann. Was nun auch als Warnung an die Leserinnen gemeint ist.

Zwei Fensterstürze aus dem 15. Jahrhundert sind historisch verbürgt. Ob die Prager diese Tradition schon früher begründeten – vielleicht schon mit der Erfindung des Fensters –, wissen wir nicht, ist aber wahrscheinlich. Denn der erste Fenstersturz im Jahre 1419 wurde recht fachmännisch ausgeführt, fast in eingeübtem Zusammenspiel zwischen den Akteuren oben und unten.

Katholiken gegen Kelchanhänger
Der erste Fenstersturz kam nicht unvorbereitet. Nach dem Märtyrertod des Reformators Jan Hus 1415 gewann die Reformbewegung in Böhmen rasch Zulauf und Schwung. Ihr wichtigstes Kennzeichen war der Kelch, das Abendmahl in beiderlei Gestalt symbolisierend (sub utraque specie – daher auch die Bezeichnung Utraquisten für die Hussiten). König Wenzel IV., selbst kein Kelchanhänger, aber anfänglich kompromissbereit, geriet zunehmend unter den Druck seines Halbbruders Sigmund, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Ungarn, sowie des Papstes in Rom. Ende Januar 1419 gab er zwar nach, indem er viele von den Utraquisten besetzte Kirchen den Katholiken zurückzugeben hieß, überließ jedoch den Reformern noch einige Gotteshäuser in der Alt- und Neustadt von Prag, darunter die bis in unsere Zeit unvollendete Kirche Maria Schnee, zwischen Jungmann- und Wenzelsplatz gelegen.

Die halbherzige Entscheidung des Königs konnte freilich keine Seite zufrieden stellen. Zusammenstöße von Utraquisten und Katholiken, oft mit tödlichem Ausgang, wurden häufiger, die Spannungen drängten zur Entladung, zumal die hussitische Bewegung nun auch auf dem Lande populärer wurde. Dort begannen an Ostern die berüchtigten „Wallfahrten auf die Berge“, bei denen hussitische Prediger – nach dem Vorbild Jesu aus der Bibel – auf Hügeln dem aus den umliegenden Gegenden zusammengeströmten Volk das Gotteswort verkündeten und das Abendmahl nach neuer Art verabreichten. Der Gegensatz zwischen der Schlichtheit der Urkirche und dem aktuellen kirchlichen Prunk war kaum besser ins Bild zu setzen.

Ein erbärmlicher Tod
Als dann am 6. Juli König Wenzel erneut klein beigab und quasi über Nacht die überwiegend reformerisch eingestellten Ratsherren der Prager Neustadt durch Katholiken ersetzte, war das Maß voll. Der Hussitenführer Jan Želivský versammelte am 22. Juli bei einer Wallfahrt zum Berg Tabor einige Radikale zu einer außerordentlichen Beratung, deren Ergebnisse acht Tage später offenbar wurden.

Am 30. Juli nämlich zog eine durch Želivskýs Predigt aufgewiegelte Menge von der Kirche Maria Schnee, zunächst zur Stefanskirche, deren Tür man aufbrach, um dort das Abendmahl zu feiern. Auf diese Weise gestärkt, ging es weiter zum Neustädter Rathaus mit dem verabredeten Ziel, nicht nur die Herausgabe von einigen kürzlich verhafteten hussitischen Glaubensgenossen zu verlangen, sondern das Rathaus zu besetzen und die Einsetzung neuer Ratsherren zu erzwingen. Da die dort versammelten Ratsherren diesem Ansinnen nicht freiwillig nachkamen, wurden sie nach der Erstürmung des Rathauses kurzerhand aus dem Fenster geworfen.

Insgesamt 13 oder 14 Personen, darunter der Bürgermeister und vier Ratsherren, fanden einen erbärmlichen Tod, da sie in die aufgepflanzten Lanzen und Spieße stürzten. Wer dann noch atmete, wurde am Boden erschlagen. Dem kränkelnden König gab dieser Aufstand den Rest. Zwar bestätigte er noch die von den Aufständischen vorgeschlagenen neuen Ratsherren, verstarb jedoch drei Wochen später. So musste er nicht mehr erleben, dass der Fenstersturz den Auftakt zu den Hussitenkriegen bildete, die das Land verwüsteten und die an Grausamkeit den ersten Fenstersturz deutlich in den Schatten stellten.

„Treue Christen, hoffet fest…“
1483 ereignete sich der zweite Fenstersturz. Wieder entlud sich der ungelöste religiöse Konflikt in einem Gewaltexzess, den aber auch tragikomische Elemente würzten. So standen sich an Fronleichnam 1480 in einer engen Altstadtgasse unversehens zwei Prozessionen gegenüber. Als keine der anderen den Weg frei machen wollte, wurde ein Katholik gegen den Priester der Gegenseite handgreiflich. Das ließen die Utraquisten nicht auf sich sitzen; eine Woche später stimmten sie auf dem Altstädter Ring das alte Hussitenlied „Treue Christen, hoffet fest …“ an – mit vielen neuen Strophen gegen Papst und Rom. Die Baseler Konzilsbeschlüsse von 1433, die in Böhmen Bekenntnisfreiheit und Toleranz garantieren sollten, erlaubten leider so unterschiedliche Auslegungen wie die tschechische Verfassung heute. Jede Seite versuchte unablässig, die eigene Position auf Kosten der anderen zu verbessern, was schließlich 1483 die Spannung erneut bis zum Zerreißen steigerte. Der Jagiellonenkönig Vladislav II. war als Schlichter schwach, denn er kämpfte noch um seine Anerkennung durch Rom und war außerdem Mitte 1483 vor der Pest nach Mähren ausgewichen.

Trotz garantierter Bekenntnisfreiheit versuchte fortan jede Seite, die eigene Position auf Kosten der anderen zu verbesseren, was 1483 die Spannung erneut bis zum Zerreißen steigerte: Die katholischen und gemäßigt reformierten Kräfte verabredeten eine Art Bartholomäusnacht gegen die radikalen Utraquisten: In der Nacht vom 24. auf den 25. September sollten deren Häuser überfallen, 80 ranghohe Bürger und Geistliche umgebracht und unbequeme Universitätslehrer ausgewiesen werden.

Doch in Böhmen blieb schon damals nichts geheim. Der Plan gelangte an die Radikalen, die nun ihrerseits am Morgen des 24. September auf ein Glockenzeichen hin losschlugen. Sie griffen die Rathäuser von Alt- und Neustadt sowie der Kleinseite an, wo die katholischen Ratsherren wegen ihrer Mordabsichten schon Bereitschaft hielten. Diesmal erschlug die Meute ihre Opfer, insgesamt wohl acht, gleich an Ort und Stelle und warf sodann die Leichen aus dem Fenster. Dem Neustädter Bürgermeister gelang es vorher mit knapper Not, das Stadtsiegel seiner Frau heimlich zur Verwahrung zu geben, die „es gut und sicher zwischen ihren Beinen versteckte“. Dann wandte sich der Pöbel gegen die Klöster der Bettelorden, und schließlich wurden die Prager Juden Opfer eines spontanen Pogroms, indirekt auch böhmische Adlige, die bei den Juden wertvolle Pfänder liegen hatten. Erst der Kuttenberger Religionsfrieden vom März 1485 brachte den Streit zu einem vorläufigen Ende: Die Bekenntnisfreiheit fand umfassende Bestätigung.

Oppositionelle Adlige
Der dritte Fenstersturz von 1618 ist, wie schon eingangs erwähnt, von allen der bekannteste – auch weil er weit über die böhmischen Grenzen hinaus Folgen zeitigte, die sich tief im kollektiven Gedächtnis Europas einnisteten. Das zweite Jahrzehnt im 17. Jahrhundert war die Zeit des schrittweisen Übergangs der böhmischen Krone von Rudolf II. auf dessen Bruder Matthias und schließlich auf Ferdinand II., der schon 1617 vorsorglich zum Nachfolger seines kränkelnden und kinderlosen Vetters Matthias bestimmt worden war. Diese Zeit bedeutete eine Abkehr von Rudolfs Erlass von 1609, der die freie Religionsausübung einmal mehr verbrieft hatte, ein Versprechen, das nun durch viele Nadelstiche immer mehr durchlöchert wurde.

Aus den zahllosen Fällen, die zu berechtigten, aber fruchtlosen Beschwerden in Wien Anlass gaben, ragten zwei hervor, an denen sich der Aufstand entzündete. 1617 zwang der Prager Erzbischof Lohelius die Bürger des Marktfleckens Hrob (Klostergrab) unter Androhung schwerer Strafen, eine von ihnen erbaute lutherische Kirche eigenhändig abzureißen. Und in Broumov (Braunau) konnten die Protestanten Anfang 1618 nur mit Mühe verhindern, dass ihre neu erbaute Kirche geschlossen wurde.

Diese beiden Fälle galten bald als Symbole der Religionsfreiheit, das Vorgehen der katholischen Vertreter der Macht stieß bei einer Versammlung der protestantischen Stände am 21. Mai 1618 auf heftigen Protest. Die oppositionellen Adligen verabredeten für den 23. Mai eine Vorsprache in der böhmischen Kanzlei auf der Burg. Heimlich verschworen sich einige von ihnen, die beiden am meisten verhassten königlichen Statthalter und Prager Scharfmacher bei dieser Gelegenheit umzubringen, und zwar durch Sturz aus dem Fenster: Jaroslav Martinic und Vilém Slavata. Und so geschah es; der unglückliche Schreiber Fabricius, der sich vorlaut zum Schutz seiner Herren eingemischt hatte, flog hinterher.

Dreißig Jahre Krieg
Doch die Aktion geriet zur Farce: Teils, weil das Gelände unter den Fenstern abschüssig war, teils wegen dort befindlicher Abfallhaufen, kamen alle drei ohne größere Verletzungen davon, nur Slavata schrammte etwas unsanft mit seinem Schädel über das vorstehende Gesims. Auch einige Kugeln, die den Flüchtenden hinterher geschickt wurden, fanden ihr Ziel nicht. Der Volksmund schrieb dieses „Wunder“ später dem Eingriff der Jungfrau Maria zu, denn zu ihr sollen die drei in höchster Not heiße Stoßgebete gesandt haben. Tatsächlich half den mit dem Leben Davongekommenen die Gemahlin des königlichen Kanzlers von Lobkowicz, Polyxena: Sie nahm sie bei sich auf, versorgte die wenigen Wunden und weigerte sich „mannhaft“, sie den bald ins Palais eindringenden Protestanten herauszugeben. Was folgte, ist bekannt. Nach einigen Wochen der Ratlosigkeit in Prag wie in Wien schlug Ferdinand II., der nun faktisch das Heft in der Hand hielt, los. Ohne dass jemand der Beteiligten es ahnte oder wollte, war der Rubikon zum Dreißigjährigen Krieg überschritten.

Bisweilen wird der Sturz des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk (Sohn des ersten Präsidenten der Tschechoslowakei) in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1948 in den Hof des Czernin-Palais als vierter Prager Fenstersturz gezählt. Wir schließen uns dem hier nicht an. Bis heute ist nicht geklärt, ob Jan Masaryk sich zu Tode stürzte oder ob er wenige Wochen nach dem kommunistischen Putsch von der Geheimpolizei hinunter gestürzt wurde. Vor allem aber ist das historische Muster ein anderes: Die Fensterstürze waren stets Auflehnung der Unterdrückten oder vermeintlich Unterdrückten gegen die Machthaber. Und sie geschahen am helllichten Tag ohne Furcht vor dem Zeugnis in der Geschichte.