Typisch Havel
In Prag erinnern viele Orte an den Dichterpräsidenten. Zwei Jahre nach seinem Tod begibt sich erstmals eine Stadtführung auf seine Spuren
27. 2. 2014 - Text: Klaus HanischText: Klaus Hanisch; Foto: MZV
Treffpunkt Rašínovo nábřeží 78/2000 – vor dem ehemaligen Wohnhaus des Dichterpräsidenten. „Dieser Ort enthält praktisch alle Symbole für Václav Havels Leben“, referiert Zuzana Balážová und deutet auf das Gebäude. Über der Eingangstür ein Relief in hellem Stein mit dem Gesicht einer Frau – und Frauen spielten in Havels Leben eine große Rolle. Auf ihrer Stirn ein fünfzackiger Stern, das Zeichen der Kommunisten, die Havel stets bekämpfte. Das Dach des Hauses ziert eine Erdkugel aus Metall. „Begeisterte Havel nicht die ganze Welt?“, fragt die Stadtführerin rhetorisch. Und er gründete in seinem Leben mehrere Organisationen, so auch das „Forum 2000“ – 2000 lautet auch seine Hausnummer in der Prager Neustadt.
In diesem Jahr sollte man sich intensiv an Václav Havel erinnern. Wie kein anderer prägte er die Samtene Revolution in der damaligen Tschechoslowakei, die vor genau 25 Jahren weltweit Schlagzeilen machte. Selbst Ausländern, die Tschechien kaum im Blick haben, ist sein Name ein Begriff. Ihnen, aber auch allen anderen bietet Zuzana Balážová nun einen besonderen Service an: Als erste Stadtführerin sucht sie Stätten in Prag auf, die in Havels Leben und Wirken eine herausragende Rolle spielten.
Gegen das Vergessen
Zwar gibt es viele Themen-Führungen, etwa auf Kafkas Spuren, auf denen von Mozart, Kepler oder Smetana. Doch Havel, der wichtigste Tscheche der jüngeren Zeitgeschichte, wurde bisher einfach beiseite gelassen. „Dabei ist seine Persönlichkeit gerade heute ein Vorbild, war sein Leben so inspirierend“, sagt Balážová, „doch während man ihn noch immer in aller Welt schätzt, vergisst man Havel bei uns im Alltag immer mehr.“ Dem will Balážová, ein bekennender Havel-Fan, mit ihrer Stadtführung zweieinhalb Stunden lang entgegenwirken. Und Plätze, an denen der Dramatiker war und wirkte, gibt es in Prag allerorten.
Einer liegt schräg unterhalb seines Wohnhauses direkt an der Moldau und macht auf den ersten Blick nicht den Eindruck, dass dort ein Präsident der Republik verkehrte. Der schlichte Holzbau wurde gleich nach dem Krieg errichtet und sieht eher aus wie ein Ort, an dem Radfahrer eine Rast einlegen. Tatsächlich weist ihn jedoch eine kleine Tafel über den Fenstern mittlerweile als nationales Kulturerbe aus. Und im Inneren ist ein zwar enges, aber schickes Restaurant untergebracht, das kleinen Fischlokalen in Norddeutschland nicht unähnlich ist.
Zufluchtsort Kneipe
„Das passte genau zu Havel“, urteilt die Führerin, „er war ein Sohn aus reicher Familie und hatte eine behütete Kindheit. Doch Ruhe suchte er in relativ einfachen Verhältnissen wie in diesem Lokal am Fluss.“ Schon in kommunistischer Zeit Ende der achtziger Jahre wurde er Stammgast. Sein Platz war auf der rechten Seite ganz hinten. Dort saß er stets mit dem Rücken zur Bretterwand; für ihn eine Notwendigkeit seit seinen Jahren unter Aufsicht im Gefängnis.
Apropos Überwachung: Da Havel stets unter Kontrolle der Geheimpolizei stand, befand sich dort, wo heute die Toilette ist, zu seiner Zeit ein zweiter Ausgang. „Wurde ein Agent gesichtet, warnte man Havel und er konnte durch diese Tür rasch verschwinden“, erzählt Balážová. Als Präsident bereitete Václav Havel Anfang 1990 genau an diesem Platz seine vielbeachtete Rede vor dem US-Kongress vor. Bis drei Uhr nachts arbeitete er an dem Manuskript. Die Brüder, die das Restaurant „Vltava“ seit vielen Jahren betreiben und damit beim großen Hochwasser 2002 beinahe in den Fluten der Moldau versunken wären, schufen ihm einen Zufluchtsort ohne Störung und Ablenkung.
Einer von beiden, René Soukup, nimmt ein Bild von der Wand. Es zeigt Havel gemeinsam mit seinem Staatsgast, dem portugiesischen Präsidenten Mário Soares, als Besucher des Lokals im Jahre 1994. Auch im Gästebuch des Hauses hat sich Havel auf einer Seite verewigt.
„Es war typisch für ihn, dass er gerne nicht vorgeschriebene Wege gegangen ist“, skizziert Zuzana Balážová den Ex-Präsidenten ihres Landes. Deshalb ging er in Kneipen und Cafés, suchte das Gespräch mit Intellektuellen und mit Jedermann. Dies machte ihn neben seiner großbürgerlichen Herkunft für die kommunistischen Machthaber zusätzlich verdächtig. Mittlerweile sind mehr als 70 Beobachtungsposten in Prag bekannt geworden, aus denen die Staatslenker ihre eigenen Bürger überwachen ließen.
Besonders in ihrem Visier: Václav Havel, der nicht nur auf Schritt und Tritt verfolgt wurde. Die Geheimpolizei saß auch unter der Kuppel des alten Wasserturmes am Mánes-Gebäude – mit gutem Blick auf Havels Wohnung am Rašín-Ufer. „In dem Raum gab es alles fürs Leben“, hat Balážová erfahren, „Bett, Heizung, Geschirr, Toilette, Telefon, also einen regelrechten Nonstop-Betrieb.“ Und dies von 1977 bis Anfang der neunziger Jahre.
Durch einen „Beschwerdebrief“ an Staatspräsident Gustav Husák hatte sich Havel 1975 auf eigenen Wunsch „von einem Objekt des öffentlichen Lebens zu einem Subjekt“ gewandelt – und damit von einer Marionette zu einem Dissidenten. Die Unterzeichnung der Charta 77 machte ihn zwei Jahre später endgültig zum Staatsfeind, der vom unsäglichen Überwachungsapparat fortan nicht mehr aus den Augen gelassen wurde.
Schon Jahre vorher, nämlich seit 1956, wurde das „Café Slavia“ in der Nationalstraße (Národní třída) für Havel zu einem Zentrum seines Lebens. Dort traf er neben vielen anderen den Regisseur Miloš Forman, einen Freund seit gemeinsamen Jahren in einem Internat in Poděbrady, den einzigen tschechischen Literatur-Nobelpreisträger Jaroslav Seifert – und Olga, seine spätere Ehefrau.
„Auch wieder typisch Havel“, unterstreicht Zuzana Balážová, „sie stammte aus ganz einfachen Verhältnissen, aus einer Arbeiterfamilie in Žižkov. Havels Mutter hatte ganz andere Vorstellungen von ihrer künftigen Schwiegertochter. Zudem war sie drei Jahre älter und wollte Schauspielerin werden. Doch Havel sagte stets, sie sei seine zweite Hälfte.“
Gerne saß er im „Slavia“ unter dem berühmten Bild mit dem „Absinthtrinker“, über dem Café lebte einst der Komponist Bedřich Smetana und komponierte seine berühmte Oper „Die verkaufte Braut“. Geistige Orte zogen Havel in den sechziger Jahren magisch an.
Nicht weit vom „Slavia“ entfernt unterhielt er nach seiner Präsidentschaft in der Voršilská, einer Seitenstraße der Nationalstraße, eine Kanzlei, woran noch eine Tafel neben dem Eingang erinnert. Dort bereitete er sein Stück „Odcházení“ („Der Abgang“) für Theater und Film unter seiner eigenen Regie vor, womit sich für ihn ein Lebens-traum erfüllte. In dem Palais, das seinem Freund und den früheren Außenminister Karel Schwarzenberg gehört, begannen auch die Planungen für eine eigene Havel-Bibliothek.
Weitere Stationen der Führung sind unter anderem das heutige Unitas-Hotel in der Bartolomějská-Straße, in dessen Gebäude die Geheimpolizei einst ihr Hauptquartier unterhielt und Havel tagelang in der Untersuchungszelle Nummer 6 im Keller einsperrte. Außerdem das Café „U Velryby“ („Beim Walfisch“), wo der Dichter seine Gesammelten Werke vorbereitete. Und die St.-Anna-Kirche, zu deren Rekonstruktion Havel und seine zweite Ehefrau Dagmar mit ihrer Stiftung wesentlich beitrugen.
Wilde Zeiten
Ein ganz wichtiger Ort war für Havel das „Theater am Geländer“ („Divadlo Na zábradlí“). Dort verbrachte er nach eigenen Worten zwischen 1960 und 1968 „die wohl glücklichsten Jahre“ seines Lebens und brachte sein vielleicht bekanntestes Werk „Zahradní slavnost“ („Das Gartenfest“) auf die Bühne. „Eine wilde Zeit, auch mit Olga, die als Platzanweiserin arbeitete“, so Balážová, „und noch ganz ohne die schlimmen Erfahrungen von ständiger Überwachung, Verfolgung und Gefängnisaufenthalten.“
Trotzdem brauchte Havel Regelmäßigkeit in seinem Leben. „Er glaubte, sich seine Zugehörigkeit zu dieser Welt verdienen zu müssen und versuchte dies über große Ordnung zu erreichen“, sagt Balážová. Mit ihrer Führung an seine Plätze stellt sie unter Beweis, dass er eben doch ein „Bürger Havel“ war – wenn auch noch erheblich mehr.
Anmeldungen zur Stadtführung „Auf den Spuren von Václav Havel“ per E-Mail an zuzana@prag-turist-guide.cz.
Weitere Informationen unter www.prag-turist-guide.cz.
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