Tiefe Fundamente
Der Alte Jüdische Friedhof in Žižkov musste erst einem Park und dann dem Fernsehturm weichen. Mit den Grabsteinen soll unter anderem die Prager Fußgängerzone gepflastert worden sein
2. 4. 2014 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton
Die Kreuzung mit der Ampel, der Platz mit den Müllcontainern, die Minigolfanlage: „Das alles hier war einmal Friedhof“, sagt Iva Steinová und blickt sich um. Autos hupen, Menschen überqueren die Straßen. Steinová steht im Prager Stadtteil Žižkov, am Rand des kleinen Mahler-Parks. In dessen Mitte ragt der große Prager Fernsehturm 216 Meter in die Höhe. Wo heute die Fundamente des Turms liegen, erstreckte sich einmal einer der drei großen jüdischen Friedhöfe Prags, der jüdische Friedhof von Žižkov. Doch wer hoch bauen will, muss tief graben.
Als in den achtziger Jahren der Fernsehturm geplant und errichtet wurde, sollte er ein Zeichen setzen. Für Modernität und technischen Fortschritt. Auf die Tausenden Toten, von denen einige schon mehrere Jahrhunderte auf dem Gelände begraben lagen, konnten oder wollten die Bauherren dabei keine Rücksicht nehmen.
Die Frage, was aus den Gräbern geworden ist, bezeichnen Vertreter der jüdischen Gemeinde noch heute als „sehr schmerzliche Angelegenheit“. Denn nach jüdischem Glauben dauert die Totenruhe ewig an, ein jüdischer Friedhof darf niemals aufgelöst oder aufgegeben werden. Vollständig aufgegeben wurde der Friedhof in Žižkov zwar nicht. Noch heute ist ein kleiner Streifen an der Fibichová-Straße erhalten. Aber ein Großteil der Fläche und der Grabsteine wurde zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren zerstört, wie Iva Steinová erzählt. Die Historikerin arbeitet für die jüdische Gemeinde in Prag und hat sich auf Grabsteine und Friedhöfe spezialisiert. Im gesamten Land hat sie bereits Dokumentationen erstellt, seit einigen Wochen führt sie mit einem Kollegen eine „Inventur“ des jüdischen Friedhofs in Žižkov durch. Etwa 2.500 Grabsteine wollen sie fotografieren. Manche sind noch vollständig erhalten, von anderen liegen nur noch Bruchstücke auf dem Gelände. Einige standen wohl ursprünglich hier, wieder andere wurden verlegt, als der Friedhof zum ersten Mal verkleinert wurde.
Der älteste Grabstein, den Steinová bisher gefunden hat, stammt aus dem Jahr 1713. Sie vermutet jedoch, dass sie noch viel ältere entdecken wird: „Der Friedhof ist während einer Pestepidemie in den Jahren 1679 bis 1680 entstanden“, erzählt die Historikerin. „Das Gebiet gehörte damals zur Gemeinde Olšany und lag südöstlich der Stadtgrenze.“ Die jüdische Gemeinde hatte das Grundstück gekauft und ein Lazarett eingerichtet, in das die Kranken aus der Judenstadt gebracht wurden. Innerhalb von zehn Monaten wurden damals etwa 3.000 Menschen begraben. Noch einmal so viele Tote brachte eine weitere Pestepidemie, die 1713 ausbrach. Als reguläre Begräbnisstätte nutzte die Prager jüdische Gemeinde das Areal erst nach 1784, nachdem Josef II. es verboten hatte, weiterhin auf den alten Friedhöfen innerhalb der Stadt zu bestatten.
Bedeutende Persönlichkeiten
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der ehemalige Pestfriedhof schließlich zu einem bekannten und vielbesuchten Ort. Er wurde mehrmals erweitert, verzeichnete jährlich etwa 200 bis 400 Bestattungen und dehnte sich auf rund 22.000 Quadratmeter aus. Etwa 37.800 Personen seien auf dem Gelände in den Jahren 1787 bis 1890 bestattet worden, erklärt Arno Pařík vom Jüdischen Museum in Prag: „Unter ihnen waren einige bedeutende Persönlichkeiten, Vertreter der Prager jüdischen Gemeinde, Rabbiner und Gelehrte, Ärzte, Professoren, Unternehmer und Künstler.“ Der wohl Bekannteste war der Prager Oberrabbiner Ezechiel Landau, der Studenten aus der gesamten Habsburger Monarchie unterrichtete. Sein Grabstein konnte gerettet werden, bis heute besuchen Mitglieder der jüdischen Gemeinde seine Ruhestätte.
Als Begräbnisstätte wurde der Friedhof Ende des 19. Jahrhunderts vom Neuen Jüdischen Friedhof abgelöst, der sich nur wenige Kilometer entfernt ebenfalls in Žižkov befindet. Den Zweiten Weltkrieg überstand er relativ unbeschadet. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren wurde der größte Teil in den Mahler-Park verwandelt. Die Grabmale wurden umgestürzt und mit Erde bedeckt. Viele wurden zerstört, einige konnten verlagert werden. Nur der nördliche, älteste Teil des Friedhofs blieb bestehen. Pařík, Steinová und andere Vertreter der jüdischen Gemeinde betrachten diese erste Phase der Zerstörung zwar als bedauerlich, sie sind sich jedoch einig, dass sie dem jüdischen Glauben zufolge gerade noch tragbar gewesen wäre: Denn die Gräber wurden mit Erde überschüttet, so blieben sie im Prinzip erhalten und die Totenruhe ungestört.
Als die größere Katastrophe gilt deshalb, was in den achtziger Jahren geschehen ist, als für den Bau des Fernsehturms die großen Bagger anrollten, um tiefe Fundamente zu errichten. „Nachdem die Bäume gefällt worden waren, begannen zwei Bagger damit, eine Aushebung für die Fundamente zu graben“, erinnert sich Pařík, der selbst Augenzeuge der Zerstörung wurde. „An den steilen Rändern der Grube waren die einzelnen Schichten deutlich sichtbar – zuerst eine mehr als einen Meter dicke Schicht Erde, dann eine dunkle Schicht des ursprünglichen Friedhofsgeländes mit dicht zusammen liegenden Bruchstücken der Grabsteine, die von den Baggerschaufeln fielen und sich auf dem Boden der Grube türmten.“
Darauf, so der Augenzeuge, folgten die Schichten, in denen die sterblichen Überreste der Bestatteten zu erkennen waren. „Am Ende wurde ein wartender Lastwagen voll beladen mit der Masse aus Lehm, aus der von allen Seiten umgekippte Grabmäler hervorragten.“ Pařík beobachtete die Zerstörung aus dem Fenster eines angrenzenden Wohnhauses. Die ausgebaggerten Grabreste habe niemals jemand kontrolliert oder zu identifizieren versucht, erinnert er sich. „Wie einer der Fahrer verriet, wurden die Grabsteine auf einen Abladeplatz nach Prag-Malešice gebracht, aber höchstwahrscheinlich fuhren sie auch woanders hin, ein Fahrzeug nach dem anderen, jeden Werktag, zwei Monate lang.“
Grabsteine als Pflastersteine
Kritik am Bau des Fernsehturms kam damals von den Bürgern Žižkovs „im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten“, so Pařík, aber nicht wegen der Zerstörung des Friedhofs. Die Proteste richteten sich vor allem gegen den „monströsen Bau inmitten historischer Bebauung“ und gegen die Zerstörung der Parkanlage, einige Anwohner fürchteten auch die elektromagnetische Strahlung. Doch die Bürger konnten genauso wenig gegen die Pläne der Stadt ausrichten wie die jüdische Gemeinde. Weil es sich um ein geschütztes Kulturdenkmal handelte, spielte die Denkmalschutzbehörde eine entscheidende Rolle – was sich allerdings nicht zugunsten des Friedhofs auswirkte.
Was aus den Grabsteinen wurde, ist nicht belegt. Pařík und andere vermuten jedoch, dass die berühmte Prager Einkaufsstraße Na Příkopě mit einem Teil der Steine gepflastert worden sein könnte. Er beruft sich dabei auch auf die Aussage des Fernsehturm-Architekten Václav Aulický. Die Fußgängerzone sei in den Jahren 1987 bis 88 renoviert worden, so Pařík. „Dass für die Pflasterarbeiten Granitsteine mit hebräischen Buchstaben auf der Rückseite verwendet wurden, haben einige Prager bemerkt.“
Handfeste Beweise dafür hat aber bisher noch niemand gefunden, auch Iva Steinová nicht. Sie beschäftigt sich lieber mit dem, was noch zu retten ist. Viele der Grabsteine, die sie zur Zeit fotografiert und registriert, sind zwar in einem relativ guten Zustand. Kummer bereitet Steinová aber der Brunnen auf der linken Seite des Friedhofseingangs. Der sei „wirklich einzigartig“ und müsste dringend restauriert werden.
Der Alte Jüdische Friedhof in Žižkov ist sonntags und dienstags von 11 bis 16 Uhr geöffnet, donnerstags von 10 bis 16 Uhr und freitags von 10 bis 14 Uhr.
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts