Was lange währt, wird endlich gut

Was lange währt, wird endlich gut

Nach 15 Jahren liegt die „Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone“ vollständig vor

2. 4. 2014 - Text: Josef FüllenbachText und Foto: Josef Füllenbach

„Schwerlich fänden wir in Europa eine andere Nation, die so viel intellektuellen Aufwand auf die philosophisch-historische Reflexion über sich selbst verwendete, die sich über eine so lange Zeit hinweg, eigentlich schon länger als hundertfünfzig Jahre, um die Erfassung der über- und außernationalen Grundlagen ihrer nationalen Existenz bemühte und eine tiefere Begründung ihres Daseins suchte, wie die Tschechen.“

Mit diesen Worten beginnt der Historiker Miloš Havelka seine Einleitung zu dem 1995 erschienen Sammelband „Streit über den Sinn der tschechischen Geschichte 1895–1938“. Dieses Buch versammelt viele der Wortmeldungen des berühmten tschechischen Historikerstreits, zu dessen Exponenten der erste Präsident der Tschechoslowakei, Thomas G. Masaryk, und der wohl namhafteste tschechische Historiker der Ersten Republik, Josef Pekař, zählten.

Das Zitat könnte man auch der bisher umfangreichsten Darstellung der tschechischen Geschichte voranstellen, die seit Anfang März dieses Jahres vollendet ist: „Velké dějiny zemí Koruny české“ („Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone“, erschienen seit 1999 im Prager Verlag Paseka): 15 Bände (vier davon in jeweils zwei Halbbänden) breiten auf rund 14.000 Seiten mit über 3.000 Abbildungen sowie über 300 Landkarten die tschechische Geschichte aus – angefangen von der Steinzeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar will dieses imposante Werk nicht den Historikerstreit, der vor hundert Jahren in vollem Gange war, wiederbeleben.

Doch möchte es mit seiner umfassenden Darstellung einen neuen Wurf wagen, der vergleichsweise kleinen tschechischen Nation einen angemessenen Platz in der Mitte Europas einzuräumen, ihr wechselvolles Auf und Ab im Strom der Geschichte nach neuestem Stand der Forschung nachzeichnen und somit auch zur Selbstfindung der Nation nach einem dramatischen Jahrhundert beitragen.

Tendenziöser Torso
Dieser letzte Aspekt dürfte für den Verleger Ladislav Horáček und den leitenden Redakteur und Herausgeber des Mammutwerkes Pavel Bělina eine wichtige Rolle gespielt haben. Nämlich dem Geschichtsbild, das seit der nationalen Erweckung im 19. Jahrhundert gemäß diversen Erziehungsprogrammen politischer und ideologischer Provenienz reichlich entstellt war, ein von solchen Schlacken befreites Bild entgegenzusetzen, das dem Ideal des preußischen Historikers Leopold von Ranke möglichst nahekommt: aufzuzeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“.

In der tschechischen Geschichtsschreibung, so betont Bělina, „hatten sich die ideologischen Vorurteile vor allem in den Jahren der kommunistischen Herrschaft angehäuft, die zudem Schuld daran trug, dass über einen engen Kreis von Fachleuten hinaus eigentlich niemand (…) auch nur eine Ahnung hatte von dem in deutscher Sprache vorliegenden mehrbändigen Handbuch zur Geschichte der böhmischen Länder“ (4 Bände, von 1967 bis 1974 in Stuttgart erschienen).

Dem Anliegen, nach 1989 die verzerrte Sicht auf die Vergangenheit zu korrigieren, war der Verlag Paseka bereits Anfang der neunziger Jahre nachgekommen. Mit einer zweibändigen tschechischen Geschichte gab er 1993 ein Schulbuch für Sekundarschulen heraus, das sich mit inzwischen sieben Auflagen und insgesamt rund 200.000 Exemplaren zu einem der erfolgreichsten Produkte des Verlags entwickelt hat.

Ein vielleicht noch wichtigeres – und ehrgeizigeres – Motiv für die „Große Geschichte“ war nach Bělina der Umstand, dass „immer noch eine umfassendere Synthese in tschechischer Sprache fehlte, denn die bisherigen Projekte einer solchen Synthese wurden bei Weitem nicht zu Ende geführt.“

Den bekanntesten Versuch einer Gesamtdarstellung stellt der fünfbändige Torso der „Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren“ von František Palacký im 19. Jahrhundert dar. Er reicht von den Anfängen bis 1526, also bis zum Beginn der Habsburgerherrschaft auf dem böhmischen Thron. Palacký wollte zur politischen Erziehung der sich allmählich als Nation konstituierenden Tschechen beitragen. Schon der Titel seines Werks blendet die Deutschen in den Kronländern bewusst aus, und auch sonst blieb dieser Torso in vieler Hinsicht tendenziös. Spätere Versuche scheiterten kläglich: entweder an schierer Faktenhuberei ohne die ordnende Kraft analytischer Durchdringung oder an den politisch-ideologischen Wechselbädern von 1948 und 1968.

Beeindruckendes Ergebnis
Die Historikergruppe um Bělina, immer wieder angespornt von ihrem wagemutigen Verleger, hat nun das große Ziel erreicht. Doch der Weg dahin war nicht einfach. Mit fünfzehn Jahren dauerte die Arbeit mehr als doppelt so lange wie ursprünglich veranschlagt. Manche der zunächst verpflichteten Autoren mussten sogar wegen Schreibhemmung ersetzt werden.

Das Ergebnis ist gleichwohl beeindruckend. Vor dem Leser liegt ein Handbuch, das sich über den engeren Kreis der Fachhistoriker hinaus an eine breite geschichtsinteressierte Öffentlichkeit richtet. Es handelt sich um eine Geschichtserzählung, die allen Ansprüchen wissenschaftlicher Fundierung genügt und gleichzeitig den umfangreichen Stoff gut lesbar, stets verständlich und interessant, mitunter spannend vor dem Leser ausbreitet.

Auch bei dem enormen Umfang des Werkes ist es gelungen, die großen Linien der Entwicklung im Auge zu behalten und immer wieder die Zusammenhänge mit der europäischen Geschichte aufzuzeigen. Und niemand wird ausgeblendet, weder unliebsame Personen noch nationale Minderheiten.

Dass bei so vielen Autoren die Schreibstile etwas variieren, war auch bei bestem Lektorat wohl nicht zu vermeiden. Die meisten Bände erfüllen den gemeinsam gesetzten Anspruch, neben der politischen Ereignisgeschichte auch die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung gleichgewichtig zur Anschauung zu bringen.

Leider ist dies nicht in allen Fällen gelungen, vor allem für die Zeit nach 1918 ist die Darstellung auf die politische Entwicklung konzentriert. Trotz dieser Einschränkung verdient das Geschichtswerk höchstes Lob. Es ist für den diesjährigen  – in Tschechien bedeutendsten – Literaturpreis Magnesia Litera in der Kategorie „Verlegerische Tätigkeit“ nominiert worden; am 8. April 2014 werden die Preisträger bekanntgegeben. Damit steht die „Große Geschichte“ in direkter Konkurrenz zu dem Band über die Anfänge des tschechischen Skateboarding „Wir haben Fleischbretter zugeschnitten“, der in PZ-Ausgabe 38 vom 19. September 2013 vorgestellt wurde.

Dem Vernehmen nach sollen Autoren und Verleger für das Handbuch zudem am 23. April die St. Adalbert-Medaille aus der Hand von Kardinal Dominik Duka erhalten. Mit Spannung darf man sich auf die Fortsetzung des Werkes freuen, die demnächst angegangen werden soll, um auch die Jahre 1945 bis 1992 abzudecken.