Ich bleib’ dann mal bei Mama
Laut einer aktuellen EU-Statistik wohnen immer mehr junge Erwachsene bei ihren Eltern. Auch in Tschechien
16. 4. 2014 - Text: Franziska BenkelText: Franziska Benkel und Annika Nielsen; Foto: Paramount Pictures
Stanislav Krejčí zeigt auf das Muster aus Tesafilm-Resten an der Wand. „Neulich habe ich das letzte Poster abgehängt, ich konnte es irgendwie nicht mehr ertragen“, sagt Krejčí und muss lachen. Das Kinderzimmer, im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses in Vysočany, bewohnt der hagere 27-Jährige seit mehr als einem Jahrzehnt. Krejčí hat Soziologie in Prag studiert und arbeitet nun in einem Hostel in der Innenstadt. Bei seinen Eltern ausgezogen ist er deswegen trotzdem nicht. Krejčí ist einer von vielen 25- bis 34-jährigen Tschechen, die noch bei den Eltern wohnen.
Krejčí folgt einem europäischen Trend. Das geht aus einer aktuellen Statistik der EU-Kommission hervor. In Tschechien ist der Anteil der „Nesthocker“ in den letzten zehn Jahren um fast sieben Prozent gestiegen. Gut ein Drittel der Tschechen im Alter von 24 bis 34 Jahren wohnte 2012 bei den Eltern. Damit befindet sich das Land im europäischen Mittelfeld. Besonders viele „Nesthocker“ gibt es in Süd- und Südosteuropa, die wenigsten leben in Skandinavien.
Auffallend ist bei allen Nationen, dass die Frauen früher ausziehen als die Männer. 2012 war der Anteil der daheim lebenden Frauen um fast die Hälfte geringer als bei den Männern – in Tschechien ebenso wie in Deutschland. „Männer sind bequemer, sie haben Angst vor der Selbständigkeit und schieben existentielle Entscheidungen, wie die Gründung einer eigenen Familie, auf. Indem sie zuhause wohnen, entziehen sie sich der neuartigen Doppelbelastung aus Vaterschaft und Beruf“, so der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann. Frauen hingegen reagierten auf strukturelle Veränderungen flexibler, für sie sei es zudem mittlerweile selbstverständlich, eine eigene Familie mit der Karriere zu vereinen, so der Wissenschaftler.
Auch wenn der Gesamtanteil der „Nesthocker“ in manchen Ländern in den letzten zehn Jahren konstant geblieben oder sogar ein wenig zurückgegangen ist, so ist doch ein europäischer Trend zum längeren Zuhause-Wohnen feststellbar. Laut Ondřej Nývlt, Demographie-Experte beim Tschechischen Statistikamt (ČSÚ), sind drei Faktoren dafür verantwortlich, dass junge Erwachsene den Auszug aus dem Elternhaus immer später wagen: lange Ausbildungszeiten, Finanznöte und eine neue Harmonie zwischen den Generationen.
„Der Weg von der Kindheit bis zum Erwachsenwerden hat sich durch die ausgedehnte Ausbildungszeit verlängert“, sagt Hurrelmann. Wer nicht hauptberuflich Geld verdient, kann sich auch in Tschechien kaum eine eigene Wohnung oder ein Zimmer leisten.
Der 26-jährige Daniel Jirát wird diesen Herbst sein Masterstudium beenden. Neben der Uni arbeitet er in Teilzeit bei einem Institut für Datenerhebung. Er nennt finanzielle Mittellosigkeit als Hauptgrund für seine Entscheidung, bei den Eltern zu leben. „Die Mieten in Prag sind einfach zu hoch.“ Jiráts Mutter verdient unter dem Durchschnitt und sein Vater ist momentan arbeitslos. „Die meisten meiner Freunde, die ursprünglich aus Prag stammen und nicht bei ihren Eltern wohnen, leben in gekauften Wohnungen oder können in Notfällen auf finanzielle Unterstützung aus der Familie hoffen.“
Nývlt fand auch heraus, dass die tschechischen Mittzwanziger ihr Geld lieber für die Freizeitgestaltung ausgeben, etwa für ihre Hobbys oder Reisen. Dies bestätigt auch Jirát. In seinem Nebenjob verdient er zwar genug, um sich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu mieten, doch könnte er sich dann nichts weiter leisten. „Ich müsste alle anderen Ausgaben, wie Kultur, Freunde treffen und Urlaub, streichen.“
Auch Soziologe Hurrelmann weist darauf hin, dass es eine größere Harmonie zwischen den Generationen für junge Erwachsene einfacher macht, bei den Eltern zu bleiben: „Die Jugendforschung stellt für die Beziehung zwischen der älteren und der jüngeren Genartion bereits seit 20 Jahren eine Verbesserung fest.“ Anders als im Falle der 68er-Generation und ihren Eltern seien Rebellentum und Auflehnung kaum noch festzustellen. Eher sei es so, dass die Kinder die eigenen Eltern mehr wertschätzten und sich an deren Lebenskonzept alternativlos anlehnten.
Hurrelmann spricht von einer „engen strategischen Allianz“ zwischen den Generationen. „Die jungen Leute ahnen, dass sie demographisch eine kleine Gruppe sind und viel auf sie zukommen wird. Aus Angst vor einem sozialen Abstieg lehnen sie sich an die Eltern an“, so der Forscher. Doch auch von Seiten der Elterngeneration würde das „häusliche Nest“ zu verlassen nicht mehr forciert. „Auch die ältere Generation sieht einen Vorteil im Anschluss an die jüngere“, so Hurrelmann. Auf diese Weise verlören sie nicht den Draht zur modernen Welt und sie seien gerade modisch und technisch informiert.
Krejčí wohnte mal für ein Semester mit Freunden in einer Wohngemeinschaft, doch bat ihn seine Mutter, zurück ins elterliche Haus zu kommen. „Mein Vater hat viel im Ausland gearbeitet und meiner Mutter war die Wohnung allein zu groß.“ Für ihn war es selbstverständlich, wieder zu ihr zu ziehen.
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