„Groß, verwandt und attraktiv“
Die Historikerin Christiane Brenner erklärt, warum die Slowakei einen besseren Draht zu Russland hat als Tschechien
18. 6. 2014 - Text: Corinna Anton
Der Politikwissenschaftler Michal Kořan bezeichnete die slowakische Gesellschaft im Interview mit der „Prager Zeitung“ in der vergangenen Woche als „traditionell wenig russophob“, der slowakische Außenminister Miroslav Lajčák sagte in derselben Ausgabe, Russland werde „in der Slowakei eher positiv begegnet“. In Tschechien dagegen landet Russland auf einer Liste der sympathischsten Länder hinter Staaten wie den USA, Japan, der Türkei und Serbien nur auf Rang 17. Fragt man Menschen hierzulande, was sie über Russland denken, begründen sie ihre ablehnende Haltung häufig damit, dass sie sich noch an die Okkupation im Jahr 1968 erinnern. Kann es sein, dass der Einmarsch in die damalige Tschechoslowakei bis heute in Tschechien nachwirkt, in der Slowakei aber nicht? PZ-Redakteurin Corinna Anton fragte bei der Historikerin Christiane Brenner (51) nach, die sich auf die Zeitgeschichte der Tschechoslowakei spezialisiert hat. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Collegium Carolinum in München und Redakteurin der Zeitschrift „Bohemia“.
Frau Brenner, haben Sie als Historikerin eine Erklärung dafür, dass das slowakische Verhältnis zu Russland offenbar besser ist als das tschechische?
Christiane Brenner: Ich glaube, es lohnt sich, bei dieser Frage etwas tiefer in die Geschichte zu gehen. Bei den Tschechen gibt es ein Bedürfnis, sich vom Osten und damit von Russland abzuheben und zu distanzieren, das ausgeprägter ist als bei den Slowaken. Das hängt auch mit den historischen Erfahrungen zusammen: In der heutigen Slowakei wurde Russland weniger stark als Bedrohung wahrgenommen als in den Böhmischen Ländern. Vielmehr erhoffte man sich von Russland Schutz vor der Magyarisierung und Unterstützung bei der Verwirklichung eigener nationaler Ziele, so zum Beispiel in der Revolution von 1848/49, als der russische Zar Nikolaus I. dem österreichischen Kaiser Franz Joseph gegen die Ungarn zu Hilfe kam. Auch die slowakische Unsicherheit über die eigene nationale Existenz und Kultur bestimmte den Blick auf Russland. Die slowakischen nationalen Eliten fragten sich, was aus Oberungarn und den Slowaken werden sollte; dabei diente nicht nur die tschechische Nation als Bezugspunkt. Die russische Kultur wurde als groß, verwandt und attraktiv wahrgenommen und – anders etwa als bei den Ukrainern – nicht als bedrohlich.
Und woher kommt das tschechische Überlegenheitsgefühl?
Brenner: Natürlich haben auch die Tschechen nach Osten geblickt und es gab Phasen, in denen Russland als Vorbild diente und die Suche nach einer slawischen Verbundenheit eine große Rolle spielte. Nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel war nicht nur die Begeisterung für die Sowjetunion groß, sondern auch die Sehnsucht, Teil eines großen slawischen Ganzen zu sein. Aber selbst in dieser Zeit, in der die Enttäuschung von 1938 über den Westen noch deutlich nachklang, sahen sich die Tschechen immer als Teil der westlichen Kultur. Populär war auch die Vorstellung – vielleicht in Kompensation der eigenen Kleinheit –, dass die tschechische Kultur nach beiden Seiten vermitteln könne, weil sie sowohl von der westlichen Zivilisation und Entwicklung geprägt war, als auch über eine „slawische Seele“ verfüge. Daher kommen auch das Motiv der Brücke oder der Synthese und die Vorstellung, dass sich in der tschechischen Kultur beides verbindet. Ich meine, dass man das in der Slowakei so nicht findet.
In Tschechien wird eine ablehnende Haltung gegenüber Russland oft mit dem Einmarsch im August 1968 in die damalige Tschechoslowakei begründet. Warum wirkt diese Erfahrung in der Slowakei offenbar nicht bis heute nach, in Tschechien dagegen schon?
Brenner: Das würde ich nicht so stark zuspitzen, oder anders gesagt: Ich würde den Grund dafür nicht ausschließlich im Jahr 1968 suchen. In der Tat haben Tschechen und Slowaken während der „Normalisierung“ nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die „Normalisierung“ traf den westlichen Teil des damaligen Staates härter, die Säuberungen gingen hier weiter als im östlichen Teil. Das mag damit zusammenhängen, dass der Reformsozialismus nicht nur, aber doch in mancher Hinsicht ein tschechisches Projekt war – auch wenn die Symbolfigur Alexander Dubček bekanntlich aus dem slowakischen Landesteil kam.
Aber für die Slowaken blieb ein wichtiger politischer Erfolg von 1968 erhalten, nämlich die Föderalisierung der Republik. Da die slowakische Erinnerung an die Jahre der „Normalisierung“ nicht so negativ ist wie die tschechische, ist auch das damit verbundene Narrativ weniger anti-russisch gefärbt als das tschechische. Aber wir sollten nicht übersehen, dass hier nicht nur ein schwer greifbares „kollektives Gedächtnis“ wirkt, sondern auch eine inzwischen 25-jährige Geschichte der Aufarbeitung: Die tschechische Debatte über die sozialistische Vergangenheit war lange Zeit – und ist es zum Teil bis heute – von einem scharfen Antikommunismus bestimmt, der mit der Tendenz einhergeht, den Kommunismus als „russischen Import“ zu verstehen. Auch das scheint mir in der Slowakei schwächer ausgeprägt zu sein.
Welche Rolle spielt die Tatsache, dass die Slowakei eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine hat?
Brenner: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, zumal ein kleiner Landesteil der heutigen Ukraine, die Karpatenukraine, einmal zur Tschechoslowakei gehört hat und besonders im Grenzgebiet viel Austausch stattfindet. Kiew fühlt sich von Bratislava aus vielleicht genauso weit an wie von Prag aus, aber von Košice gesehen, ist Uschhorod schon ziemlich nah. Insofern macht man sich in der Slowakei mehr Gedanken über die Folgen, die die politischen Unruhen im Nachbarland für die Slowakei haben können, zum Beispiel darüber, wie viele Ukrainer legal oder illegal einwandern werden. Andererseits sind die Ukraine und die Slowakei füreinander auch interessante Handelspartner, das konnte man zum Beispiel im April beobachten, als beide Länder ein Abkommen über Gaslieferungen unterzeichneten, das die Ukraine unabhängiger von Russland machen soll. In dieser Konstellation kommt die Slowakei als Partner ins Spiel, der die Ukraine in ihrem Bemühen unterstützt, unabhängiger von Russland zu werden und verstärkt wirtschaftliche Kooperationen mit der EU aufzubauen.
Gerade dieses aktuelle Beispiel zeigt meiner Meinung nach aber auch, dass wir die Unterschiede zwischen Tschechien und der Slowakei in Bezug auf Russland nicht zu sehr akzentuieren sollten: Beide Länder haben in den vergangenen Monaten sehr klar signalisiert, dass sie mit der russischen Politik gegenüber der Ukraine nicht einverstanden sind und dass sie keine Stationierung von US-Truppen wünschen. In diesem Punkt liegen sie ganz auf einer Linie.
„Wie 1938“
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