Gefangen in der Agentenwelt

Gefangen in  der Agentenwelt

Statt über die Karlsbrücke zu spazieren, lassen sich immer mehr Touristen in einen Raum einsperren. Manche fliegen dafür um die halbe Welt

18. 6. 2014 - Text: Annika NielsenText: Annika Nielsen; Foto: Franziska Benkel

 

„Nein, nicht schon wieder ein Zahlenschloss“, schreit Robert. „Jetzt mach doch endlich was Nützliches und brüll nicht nur rum“, fährt ihn Mia verzweifelt an. Sie versucht, beim Anblick ihrer drei hektisch herumschwirrenden Partner die Nerven nicht zu verlieren. Es bleiben noch neun Minuten. Neun Minuten, um drei Schlösser zu öffnen, zwei Codes zu knacken und schließlich die richtige Zahlenkombination einzutippen, damit sich die Ausgangstür öffnet. Schaffen es die Vier nicht, kommt der feindliche KGB-Agent zurück und ertappt die unerwünschten Spione auf frischer Tat beim Durchsuchen seiner Wohnung.  

Was klingt wie ein Spionagethriller ist in Wirklichkeit ein Spiel, das sich „Trap Prague“ („Falle Prag“) nennt und seit Dezember 2013 vom gleichnamigen Veranstalter in der tschechischen Hauptstadt angeboten wird. Innerhalb eines Monats hat sich das Spiel zur beliebtesten Aktivität in Prag entwickelt, zumindest laut dem Online-Reiseführer „Trip Advisor“. Denn dessen Beliebtheitsskala führen nicht etwa klassische Sehenswürdigkeiten an, sondern gleich zwei sogenannte „Exit Games“.

Als Gruppe von zwei bis fünf Leuten wird man bei „Trap Prague“ in eine Wohnung eingesperrt, die den siebziger Jahren nachempfunden ist. Im Wohnzimmer steht eine Matrjoschka im Holzschrank, aus einem Lautsprecher erklingt die sowjetische Hymne. An einer Pinnwand hängt ein Foto von Genosse Breschnew in Badehose. Die Teilnehmer finden sich in der Spionage- und Agentenwelt des Kalten Kriegs wieder, ohne dabei in eine andere Rolle schlüpfen zu müssen. Vielmehr stammt die Spielidee von Computerspielen, in denen es darum geht, Rätsel zu knacken, um eine Geschichte aufzulösen.

Das Ziel ist einfach erklärt: Die Spieler haben exakt eine Stunde Zeit, um wieder aus der „Falle“ herauszukommen, also die letzte Tür zu öffnen. Das ist nur möglich, indem sie mit logischem Denken und Kreativität Zahlenkombinationen finden und Schlösser öffnen. Wie schwierig das ist, erfahren die vier Teilnehmer, die gerade nach den richtigen Codes suchen. Zunächst überfordert von den zahlreichen verschlossenen Schubladen und Schranktüren, beginnen sie schnell, wenn auch anfangs sehr unkoordiniert, nach möglichen Hinweisen für Kombinationen zu suchen. Bilder und Zeichnungen an der Wand werden gedeutet. Robert stößt sich vor Aufregung den Kopf. Die Spieler tappen im Dunkeln, bis plötzlich das altmodische Telefon mit Wählscheibe klingelt. Hinweis oder Dekoration?

Ein „Trap“-Mitarbeiter meldet sich. Über eine Videokamera verfolgt er das Geschehen aus einem Nebenraum und greift ein, wenn die Teilnehmer nicht weiterkommen oder ganz auf dem Holzweg sind. Denn mit dabei ist immer die Ungewissheit, ob ein vermeintlicher Hinweis denn auch wirklich weiterhilft. Kann mit der angezeigten Zeit auf der Wanduhr ein Zahlenschloss geknackt werden, oder handelt es sich dabei nur um eine Dekoration? Gerade in solchen Situationen offenbare sich der unterschiedliche Bildungshintergrund, analysiert Karel Šedivý, Mitgründer von „Trap Prague“. „Besser gebildete Spieler denken oft viel zu weit und lassen sich von falschen Hinweisen fehlleiten, während Bildungsfernere dem roten Faden besser folgen können.“ Was jedoch nicht unbedingt heißt, dass sie am Ende schneller sind. Auf die Frage nach der erfolgreichsten Bevölkerungsgruppe antwortet der Tscheche: „Meistens Leute aus dem asiatischen Raum, da sich unter ihnen viele Ingenieure befinden, denen ihr Flair für Zahlen und physische Mechanismen zugute kommt.“

Die wenigen tschechischen Gruppen haben bis jetzt auch gut abgeschnitten, sind aber in der klaren Unterzahl. Die „Trap“-Macher bemühen sich zwar, die Bekanntheit auf lokaler Ebene zu fördern, dennoch sind 99 Prozent der Spieler Touristen, die oft über die Beliebtheitsliste im Internet auf die Attraktion aufmerksam werden. Manche von ihnen reisen um die halbe Welt wegen des Spiels. „Wir haben immer wieder Besucher, die direkt vom Flughafen zu uns kommen, die Koffer noch hinter sich herziehend“, erzählt Šedivý, „einmal flog sogar jemand aus Dubai nur nach Prag, um unser Spiel auszutesten“. Der Kunde habe den doppelten Preis gezahlt, um nach Mitternacht, also nach der offiziellen Öffnungszeit, noch spielen zu können.

Dank des Interesses der ausländischen Besucher ist „Trap Prague“ meist mehrere Tage im Voraus ausgebucht: Neun Gruppen am Tag wollen versuchen, aus der Agentenwohnung mitten im Stadtzentrum freizukommen, sieben Tage die Woche. Der große Erfolg ermöglicht es den „Trap“-Veranstaltern, zu expandieren. Momentan werden nach Budapest, Berlin und Prag weitere Standorte in Konstanz, Paris und Belgrad aufgebaut, im Juli werden in der tschechischen Hauptstadt zwei weitere Räume eröffnet. „Es ist wichtig, dass wir uns weiterentwickeln, denn einen Raum kann man nur einmal durchspielen“, begründet Šedivý die Expansion. „Wir müssen also denjenigen, die gerne wieder kommen möchten, etwas Neues bieten.“ Das ruft auch andere Anbieter auf den Plan. In Budapest beispielsweise, wo vor gut drei Jahren das erste „Exit Game“ in Europa auftauchte, existieren inzwischen bereits über 40 Räume, in denen sich Touristen einschließen lassen können, in Prag dürfte die Entwicklung ähnlich verlaufen.

Aber wie ist es zu erklären, dass sich diese Spiele gerade in Städten, die Touristen auch sonst viel zu bieten haben, so großer Beliebtheit erfreuen – neben Prag etwa in Paris oder London? Lukács Tóth, Mitverantwortlicher für den „Trap“-Standort in Prag, sieht den Reiz darin, dass es sich um eine ganz neue und aufregende Möglichkeit handelt, an seiner Urlaubsdestination Zeit zu verbringen: „Trap Prague bietet eine unterhaltsame Pause von den gewöhnlichen touristischen Sehenswürdigkeiten und Lokalitäten.“

Und die vier vermeintlichen Spione, die sich noch immer in dem geschlossenen Raum befinden? Drei Minuten bleiben ihnen; die nötigen Schlösser sind dank intensiver Hilfe geöffnet, vor ihnen liegt der letzte Hinweis für das Zahlenschloss der Ausgangstür. Wieder klingelt das Telefon. Eigentlich wäre es nicht schwierig, die richtige Kombination herauszufinden, doch zu stressig ist die Situation, zu aufgeregt sind die Gemüter, zu zittrig die Hände. Ein letzter Denkanstoß, dann ist nach 59 Minuten die vierstellige Zahl gefunden, eingetippt und das erlösende Summen zu hören, das die sich öffnende Tür von sich gibt.