An der Schwelle zum Unwirklichen

An der Schwelle zum Unwirklichen

Die Nationalgalerie zeigt Werke führender Avantgarde-Künstler

26. 6. 2014 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Bild: Toyen: „Bramborové divadlo“/NG

 

Vor vier Jahren erhielt die Nationalgalerie ein überraschendes Geschenk. Eine Kunstsammlerin vererbte dem Museum rund 20 Bilder führender Vertreter der künstlerischen Avantgarde. Unter den Werken befanden sich Zeichnungen und Gemälde der Surrealisten Toyen, Jindřich Štyrský, Josef Šíma und František Tichý und des Kubisten Emil Filla. Unter dem Titel „Unerwartetes Erbe“ („Nečekané dědictví“) macht die Nationalgalerie den einmaligen Fundus nun im Kinsky-Palais der Öffentlichkeit zugänglich.

Unheimliche Landschaften, groteske Gesichter und rätselhafte Begegnungen spiegeln sich in den ausgestellten Bildern wider. Sie sind ein Sinnbild für das Spiel mit den Realitäten – mit Leben und Tod, Nacht und Traum, Illusion und Wirklichkeit. Das wohl bekannteste der Exponate dürfte Toyens „Im Schloss La Coste“ („Na zámku La Coste“) sein. Das Bild der Prager Künstlerin zeigt die auf rissiger Wand gezeichneten Konturen eines Wolfes. Mit der linken Pfote tritt das Raubtier aus der Mauerwand hervor und erfasst eine am Boden liegende Taube. Durch den Bruch mit der Zweidimensionalität der Bildfläche materialisiert sich der Wolf im Raum zu einem gefährlichen Wesen und steht zugleich an der Schwelle zwischen Realität und Surrealität. Das 1943 in einer ersten Fassung angefertigte Gemälde ist eine düstere Anspielung auf die tödliche Gefahr der Kriegsjahre.

Die Zerstörungskraft des Zweiten Weltkriegs ist auch in Toyens „Kartoffeltheater“ („Bramborové divadlo“) gegenwärtig: Aus einer Meereslandschaft tauchen ruinenartig zwei Häuser auf. In der Mitte tanzt ein gesichtsloser Pierrot mit Colombina, seiner Geliebten aus der italienischen Commedia dell’arte. Wie die hoffnungslosen Überbleibsel nach einer Apokalypse ragen im Vordergrund zwei morsche Äste aus dem Wasser.

Die Auseinandersetzung der Surrealisten mit den unergründlichen Tiefen des Unterbewusstseins wird auch in Bildern wie „Frauen an den Gräbern“ („Ženy nad hroby“) von František Muzika, Josef Šímas „Landschaft“ („Krajina“) oder „Illustration nach dem 3. Gesang von Máchas Mai“ („Ilustrace ke 3. zpěvu Máchova Máje“) von Toyens langjährigem Gefährten Jindřich Štyrský deutlich. Štyrský schuf die Tuschezeichnung anlässlich des 100. Todestags von Mácha im Jahr 1936. Für den Künstler bedeuteten die Verse des romantischen Dichters den Höhepunkt der modernen tschechischen Poesie.

Ebenfalls zu sehen sind einige von Picasso beeinflusste Gemälde des Spaniers Honorio García Condoy sowie ein kleinformatiges abstraktes Meisterwerk des heute hochdotierten Emil Filla: „Stillleben mit Pfeife und Glas“ („Zátiší s dýmkou a sklenicí“). Die schwarzen Linien auf weißem Bildgrund gelten als Höhepunkt seines sogenannten lyrischen Kubismus.

Mit lediglich 24 Exponaten ist die Ausstellung zwar recht übersichtlich, dafür aber umso liebevoller umgesetzt. So kann der Besucher wie einst die Surrealisten mittels der „Écriture automatique“ in einem Traumtagebuch seine Erinnerungen, Träume oder Gedanken zu den unterschiedlichen Objekten, die auf einem Schreibtisch aufgereiht sind, hinterlassen.

Unerwartetes Erbe. Kinsky-Palais (Staroměstské nám. 12, Prag 1) geöffnet: täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Eintritt: 50 CZK (ermäßigt 30 CZK), bis 24. August, www.ngprague.cz