Schwerer Stand

Schwerer Stand

Über den Umgang mit dem architektonischen Erbe des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa

10. 7. 2014 - Text: Bartetzky-Dietz-HaspelText: Arnold Bartetzky, Christian Dietz, Jörg Haspel; Foto: Kolossos

Der politische Umbruch um 1989–1991 stellte fast über Nacht das architektonische und städtebauliche Nachkriegserbe in den vormals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas zur Disposition. Die Architektur aus der Zeit des Sozialismus war damals bis auf Ausnahmen so unpopulär wie das überwundene System. Die Bevölkerung begegnete der Masse des Baubestands mit Geringschätzung bis Ablehnung, politisch besonders kontaminierte Bauten lösten vielfach offene Aggressionen aus. Zugleich verloren unzählige Gebäude im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Transformation ihre Nutzer, andere mussten neuen Funktionen oder Rentabilitätsanforderungen angepasst werden. Ganze Platzanlagen und Straßenzüge erlebten eine grundlegende Umgestaltung im Zeichen der Kommerzialisierung und Verkehrsmodernisierung.

Seit dem Umbruch wurde ein beträchtlicher Teil des Bauerbes der Jahrzehnte vor 1989 abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit überformt. Noch schneller als die Bauten verschwanden viele politische Denkmäler des Sozialismus. Ihre Zerstörung oder zumindest Entfernung aus dem öffentlichen Raum galt oftmals als ein Mittel, den politischen und moralischen Neuanfang sowie den Bruch mit einer undemokratischen Vergangenheit glaubwürdig zu machen, gelegentlich auch als rasch umsetzbare symbolische Ersatzhandlung für die Bewältigung der realen Schwierigkeiten im Reform- und Demokratisierungsprozess.

Beim postsozialistischen Umbau der Stadträume und Denkmalbestände wirkten verschiedene Motive und Bedürfnisse zusammen, darunter auch einige, die nicht nur aus der Zeit heraus verständlich, sondern bis in die Gegenwart virulent sind. Und gewiss war auch aus heutiger Sicht nicht jede Beseitigung eines Bau- oder Bildwerks aus sozialistischer Zeit ein Frevel. Oft fehlten dabei aber Augenmaß und Weitsicht. Viele Meisterwerke der Nachkriegsjahrzehnte, die den Beitrag der Länder Mittel- und Osteuropas zur gesamteuropäischen Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts repräsentierten, wurden ohne Ansehen der Qualität unsensiblen Modernisierungen oder Abrissbaggern überlassen.

Mit der reflexhaften Vernichtung politischer Denkmäler und Kunstwerke im öffentlichen Raum beraubten sich die postsozialistischen Gesellschaften aussagefähiger Zeugnisse, die an die propagandistische Instrumentalisierung der Stadträume durch ein überwundenes Regime erinnern und mittels angemessener Kommentierung langfristig ein hohes aufklärerisches Potential entfalten könnten.

Dieser Dezimierungs- und Überformungsprozess schreitet auch mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Umbruch weiter voran. Doch die fachliche Bewertung und gesellschaftliche Wahrnehmung dieses Erbes haben sich inzwischen stark ausdifferenziert. Bereits seit den 1990er Jahren ist eine zunehmende Akzeptanz des dekorativen, monumentalen Neo-Historismus der Stalinzeit, der als Architektur des Sozialistischen Realismus oder auch als Baukunst der Nationalen Traditionen etikettiert wird, nicht nur durch Denkmalpfleger und Architekturhistoriker, sondern auch durch weite Teile der Bevölkerung zu beobachten.

Das Erbe der sozialistischen Moderne aus den 1960er bis 1980er Jahren hat einen viel schwereren Stand. Aber von einer generellen Ablehnung oder Missachtung kann auch hier nicht mehr die Rede sein. Abrisse sind zwar nach wie vor an der Tagesordnung. Aber während sie bis vor wenigen Jahren von der Öffentlichkeit vorwiegend stillschweigend zur Kenntnis genommen wurden, lösen sie heute oftmals lebhafte Debatten aus und stoßen auf Widerspruch von Fachleuten, Bürgerinitiativen, Medien, gelegentlich auch von Politikern. Analog zur Entwicklung im Westen, wo die lange Zeit als Inbegriff der „Unwirtlichkeit der Städte“ geltende Architektur der Nachkriegsmoderne eine neue Wertschätzung erlebt, zeigen vor allem junge kreative Milieus eine starke Affinität zur Ostmoderne, die zum Teil sogar modische Züge trägt. In demselben Maße, in dem einzelne Bauten und Ensembles selbst bei einem breiteren Publikum Anklang finden, entdecken zunehmend auch Investoren deren Marktpotential.

Der Wandel der Wahrnehmung, der sich in den letzten Jahren immer rascher zu vollziehen scheint, wird von einer Fülle wissenschaftlicher Aktivitäten begleitet und zugleich stimuliert. Vor allem in Deutschland sind Veranstaltungen und Publikationen zum Bauerbe des Sozialismus kaum noch überschaubar. Allein in den Jahren 2011 und 2012 fanden hierzulande mindestens drei große internationale Konferenzen zum baukulturellen Erbe des Sozialismus statt, aus denen umfängliche Sammelbände hervorgingen.

Arnold Bartetzky ist Fachkoordinator für Kunstgeschichte am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig. Gemeinsam mit Christian Dietz und Jörg Haspel brachte er vor kurzem den im Böhlau-Verlag erschienenen Band „Von der Ablehnung zur Aneignung? Das architektonische Erbe des Sozialismus in Mittel- und Osteuropa“ heraus, der sich mit dem Denkmalwert und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Bauzeugnissen aus der Zeit des Sozialismus beschäftigt. Zu Wort kommen erfahrene Konservatoren und Planer sowie Kunsthistoriker und engagierte Künstler aus postsozialistischen Ländern, die das Architekturerbe des Sozialismus nicht als Bürde, sondern als Chance zur (re-)interpretierenden Erhaltung und Erneuerung eines gemeinsamen europäischen Nachkriegserbes verstehen.