Der Jugend eine Chance
EU-weite Beschäftigungsgarantie sei unrealistisch – Kritik am tschechischen Ausbildungssystem
12. 12. 2012 - Text: Marcus HundtText: Marcus Hundt; Foto: yourdon
Die Krise, in der sich Europa seit 2008 befindet, trifft junge Menschen besonders hart, und ihre Auswirkungen verschärfen sich noch weiter: Die Jugendarbeitslosigkeit hat im dritten Quartal 2012 eine Quote von 22,7 Prozent erreicht – doppelt so hoch wie bei den Erwachsenen, und eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Mit diesen Worten beginnt der Bericht der EU-Kommission, der zu Beginn vergangener Woche an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und zahlreiche Ausschüsse verschickt wurde. Darin steht auch, wie das Ziel, junge Menschen in Beschäftigung zu bringen, erreicht werden soll. Um es auf den Punkt zu bringen: Die EU will eine Jobgarantie für Jugendliche einführen– die Kommission nennt es „Jugendgarantie“. Alle jungen Leute unter 25 Jahren müssen innerhalb von vier Monaten eine Stelle bekommen, lautet der ehrgeizige Plan. Sorgen soll dafür jeder Staat selbst, eine Finanzspritze aus Brüssel wird es nicht geben. Das Echo auf den von EU-Kommissar László Andor vorgestellten Vier-Punkte-Plan, der bei Nichterfüllung keine Sanktionen nach sich zieht, fällt zwiespältig aus. Unisono reagierten Medien und Arbeitsmarktexperten: Es sei zwar zu begrüßen, dass die Jugendarbeitslosigkeit als ernsthaftes Problem wahrgenommen werde, doch gerade die von der Wirtschaftskrise besonders getroffenen Staaten könnten die Empfehlung kaum aus eigener Kraft umsetzen. Da reicht es auch nicht aus, um Andors Worte aufzugreifen, sich „auf den Gruppendruck unter den Mitgliedstaaten“ zu verlassen.
Düstere Prognose
Die Jugendgarantie soll, so der Wunsch der Kommission, im kommenden Jahr von allen EU-Staaten eingeführt werden. EU-Institutionen, Regierungen und Unternehmen sind aufgerufen, alles dafür zu tun, um das Szenario einer „verlorenen Generation“ zu verhindern. Die düstere Prognose Andors: „Falls wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen, steht uns sowohl in wirtschaftlicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht eine Katastrophe bevor.“
Milan Mostýn, Sprecher des Tschechischen Industrie- und Verkehrsverbandes (SP ČR), sieht in dem Konzept nichts anderes als eine „bürokratische Entscheidung“ Brüssels. Die Lösung des Problems sei damit anderen überlassen. Zweifel an der Beschäftigungsgarantie für Jugendliche äußert selbst der christdemokratische Europaabgeordnete Jan Březina und schlägt ein System vor, das Anreize für Arbeitgeber schafft. „Das könnte mit steuerlichen Vorteilen funktionieren.“ Eine solche Strategie verfolgt zum Beispiel die Regierung in Finnland. Unternehmen, die einen Arbeitnehmer bis 25 Jahren einstellen, erhalten vom Staat ein Jahr lang 650 Euro pro Monat. Helsinki lässt sich das auf fünf Jahre angelegte Programm 110 Millionen Euro kosten. Eine Investition, die sich zumindest beim Blick auf die Zahlen auszahlt. Entgegen dem Europa-Trend stehen in Finnland aktuell mehr Jugendliche in Lohn und Brot als vor einem Jahr.
Wie sieht die Situation in Tschechien aus? Obwohl die Jugendarbeitslosigkeit hierzulande mit derzeit 20,7 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegt (siehe Grafik auf Seite 4), ist sie besorgniserregend. Denn gegenüber dem Vorjahr hat sich die Quote der Arbeitslosen unter 25 Jahren um fast drei Prozent erhöht. Noch nie sei die Lage auf dem tschechischen Arbeitsmarkt so ernst gewesen, sind sich die Experten einig. „Vor allem junge Leute, die gerade ihr Fachabitur an einer Mittelschule gemacht oder ihr Hochschulstudium abgeschlossen haben, finden nur schwer eine Anstellung“, meint Ondřej Nývlt, der für das Tschechische Statistikamt (ČSÚ) seit Jahren die Arbeitsmarktsituation beobachtet.
Für Milan Mostýn vom Industrieverband liegt das Problem auf der Hand: Während immer mehr Schulabgänger einem geisteswissenschaftlichen Studium nachgehen oder eine wirtschaftliche Ausbildung absolvieren, seien technische Berufe kaum noch gefragt. Dies führe zu einem klaren Missverhältnis auf dem Arbeitsmarkt.
Der Unternehmenssektor allein, so Mostýn, könne dieses Ungleichgewicht nicht lösen. Vor allem die Politik müsse nun handeln, das gesamte Bildungssystem überdacht werden. Auch viele deutsche Unternehmer in Tschechien sehen in der Qualität der Berufsausbildung das Kernproblem. In einem offenen Brief der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer (DTIHK) forderten sie Ministerpräsident Petr Nečas (ODS) auf, „diesem Thema in der Regierungsarbeit und in den zuständigen Fachministerien besondere Bedeutung zu widmen“. „Es wird immer schwieriger, qualifiziertes Personal in Tschechien zu finden“, klagt die DTIHK. Dies liege allerdings nicht nur am demografischen Wandel, sondern vielmehr an der praxisfernen und damit ineffektiven Ausbildung. Weder der Unterricht selbst, noch die Lehrpläne spiegelten die wirtschaftliche Realität wider. „Hier fehlen Bedarfsorientierung und Verknüpfung von Theorie- und Praxisausrichtung.
Das Berufsausbildungssystem, insbesondere im technisch-gewerblichen und kaufmännischen Bereich, entspricht nicht mehr den gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes“, heißt es in dem Schreiben. Gerade jene europäischen Länder mit der mit Abstand geringsten Jugendarbeitslosigkeit zeigten mit ihren Ausbildungsmodellen, wie es aussehen könne: „Der Staat behält die Bildungshoheit, überträgt aber einen Teil seiner Bildungskompetenzen auf die Unternehmen. Die Wirtschaft übernimmt (…) eine Mitverantwortung für die berufliche Ausbildung und trägt damit auch einen Teil der Ausbildungsfinanzierung. Gleichzeitig entlastet der Staat diese steuerlich, indem die Ausbildungskosten geltend gemacht werden können.“
In seinem Antwortschreiben gelobt der Premier zwar Besserung, doch entscheidende Schritte, die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zu bekämpfen, lassen bislang auf sich warten. Auch die umstrittene Reformpolitik mit ihren rigiden Sparmaßnahmen steht dem entgegen. Dabei fallen die öffentlichen Bildungsausgaben schon heute in fast allen Ländern Europas höher aus als in Tschechien. Eine von EuroStat herausgegebene Studie belegt zudem, dass Tschechien nicht ausreichend auf die wirtschaftliche Entwicklung reagiert. Die staatlichen Ausgaben für „arbeitsmarktpolitische Eingriffe“ liegen mit knapp 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) deutlich unter denen Deutschlands (2,6 Prozent) oder Dänemarks (3,1 Prozent), der EU-Durchschnittswert beträgt 2,2 Prozent.
Größere Chancen?
Immerhin 35 Millionen Kronen (umgerechnet etwa 1,4 Millionen Euro) wert war dem Arbeits- und Sozialministerium vor kurzem die auf ein Jahr ausgelegte Werbekampagne „Větší šance“ („Größere Chancen“). Junge Arbeitssuchende sollen dazu gebracht werden, praktische Erfahrungen zu sammeln. Von einer Reform des Ausbildungssystems, wie es Arbeitsmarktexperten, DTIHK oder der Tschechische Industrieband verlangen, ist dort keine Rede. „Ohne Praxis keine Arbeit, ohne Arbeit keine Praxis“, lautet der aktuelle Leitsatz des Ministeriums. Also nutzt man Gelder, die nicht der tschechische Staat, sondern der Europäische Sozialfonds (ESF) bereitstellt, um Projekte wie „Pracovní praxe jako odrazový můstek“, zu Deutsch etwa „Arbeitserfahrung als Sprungbrett“, anzubieten. Jiří Kadlec von der Gesellschaft bfz, die im Kreis Pilsen gemeinsam mit den örtlichen Arbeitsämtern Praktika in Unternehmen und berufsorientierte Workshops vermittelt, ist überzeugt: „Das Projekt hilft jungen Leuten, die über keine Berufserfahrung verfügen, Motivation und Selbstvertrauen zu finden.“
Doch ob das ausreicht, darf besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten bezweifelt werden. Eine weitreichende Reform des Arbeitsmarktes, die steuerliche Vorteile für junge Arbeitnehmer einschließt und vor allem neue Arbeitsplätze schafft, habe es in Tschechien leider nie gegeben, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Pavel Sobíšek, gegenüber der Nachrichtenagentur čtk. Der in Brüssel vorgeschlagenen Jobgarantie kann Sobíšek nichts abgewinnen. „Die Absicht ist gut. Aber das Problem der Jugendarbeitslosigkeit löst man nicht, indem der Staat den Unternehmen vorschreibt, eine bestimmte Bewerbergruppe einzustellen.“
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