Reise ins Unsichtbare
Wie erlebt man seine Umgebung, wenn man sie nicht sehen kann? Jaroslav Trnka und Petr Kyncl führen Besucher durch die Welt der Blinden
2. 10. 2014 - Text: Julia MiesenböckText: Julia Miesenböck
Es ist, als hätte man plötzlich das Augenlicht verloren. Nachdem die Eingangstür geschlossen ist, befindet man sich in einem vollkommen abgedunkelten Raum. Keine einzige Kontur ist mehr zu erkennen. Man muss ohne die für die meisten Menschen wichtigste Sinneswahrnehmung auskommen: das Sehen. Gewöhnlich nimmt das menschliche Gehirn 70 bis 80 Prozent aller Informationen aus der Umwelt über die Augen auf. Was passiert, wenn wir uns auf diesen wichtigen Sinn nicht mehr verlassen können und die Umgebung allein durch Tasten, Hören, Riechen und Schmecken wahrnehmen müssen?
Was zunächst ziemlich kompliziert erscheint, erleben Besucher der „Unsichtbaren Ausstellung“, die derzeit im Neustädter Rathaus besucht werden kann. Für andere ist diese Erfahrung etwas ganz Alltägliches: Allein in Tschechien leben rund 20.000 Menschen, die an einer starken Sehschwäche leiden oder blind sind. „Zehn Jahre war ich arbeitslos, ich habe nur zuhause gesessen“, erzählt Jaroslav Trnka, der vor 13 Jahren sein Augenlicht verlor. „Als ich vor drei Jahren hier zu arbeiten begann, war ich richtig froh über diese Gelegenheit.“ Trnka und sein Kollege Petr Kyncl führen Besucher durch die „Unsichtbare Ausstellung“. Unter dem Motto „Spüren, was nicht zu sehen ist“ werden die Gäste ausschließlich von Blinden und Sehbehinderten durch die Räume begleitet. Den Weg müssen sie allerdings selbst finden, zur Orientierung dienen vor allem die Arme.
„Ich hatte ein bisschen Angst und mir war anfangs sogar schwindelig, es fiel mir sehr schwer, mich zu orientieren, ohne etwas zu sehen“, beschreibt Anna, eine Besucherin, die gemeinsam mit ihrer Klasse in die Ausstellung gekommen ist, die Erfahrung. „Aber gegen Ende wurde das Gefühl der Orientierungslosigkeit schwächer, ich habe mich mehr darauf konzentrieren können, was ich fühle und mir dann einfach vorgestellt, wie die Räume aussehen, in denen ich mich gerade befinde.“ Ihr Mitschüler Martin meint: „Besonders schwierig war es, einzuschätzen, wo sich andere Personen befinden, und es kam oft vor, dass ich gegen jemanden gestoßen bin.“
Unterwegs in Prag
Begleiter Kyncl erzählt, er habe von der Ausstellung durch die Gruppe erfahren, zu der er mit seinem Blindenhund regelmäßig zum Training gehe. Ausgerichtet werden diese Trainings von der Organisation Tyflocentrum, die mit der „Unsichtbaren Ausstellung“ zusammenarbeitet. Als landesweite Beratungseinrichtung bietet sie Kurse und Schulungen an, außerdem stellt sie Hilfsmittel zur Verfügung. Besonders praktisch ist Trnka und Kyncl zufolge ein kleiner Sender für Blinde und Sehschwache. Das handtellergroße Gerät erleichtert es ihnen, sich in der Stadt zu bewegen. Trnka trägt den Sender zum Beispiel in der Hosentasche oder am Blindenstock, wenn er in Prag unterwegs ist. „Wenn ich an der Haltestelle stehe und ein Bus oder eine Straßenbahn kommt, drücke ich auf einen Knopf und durch einen Audio-Melder werden mir Informationen über Linie und Fahrtrichtung durchgegeben.“ Auch in der U-Bahn funktioniert das System: „Durch den Sender können wir zum Beispiel erfahren, in welche Richtungen die Rolltreppen fahren. Über ein Signal können wir auch den Fahrer des jeweiligen Zuges informieren, und er wird dann in jeder Station alle Türen öffnen und schließen, damit wir leichter ein- und aussteigen können.“ Außerdem erleichtert das Hilfsmittel es Blinden und Sehschwachen, sich in öffentlichen Gebäuden wie der Prager Hauptpost zurechtzufinden, indem es dem Benutzer den Weg ansagt, damit er zum richtigen Schalter findet.
Wo keine Sender eingebaut wurden, sind in Prag mittlerweile viele Fußgängerübergänge und die meisten Straßenbahnstationen mit einem speziell strukturierten Pflaster ausgestattet. Für Touristen bietet die Reiseagentur „Accessible Prague“ Stadtbesichtigungen an, bei denen die Teilnehmer Prag ertasten können. Neben dem Tyflocentrum gibt es noch eine Reihe anderer Organisationen in Tschechien, die die Interessen von Blinden und Sehschwachen vertreten und mit denen die „Unsichtbare Ausstellung“ zusammenarbeitet. Viele davon organisieren auch Kurse, in denen Sehende lernen können, wie sie Blinden und Sehschwachen im Alltag helfen können. „Viele Menschen denken, der Alltag von Blinden wäre ganz anders. Aber das stimmt eigentlich nicht, wir leben wie alle anderen auch“, sind sich die beiden Begleiter der „Unsichtbaren Ausstellung“ einig. Besuchern die Welt, wie sie Blinde und Sehschwache erleben, näherzubringen und zu zeigen, dass sich ihr Leben im Grunde nicht von dem der Sehenden unterscheidet, ist auch die Absicht der „Unsichtbaren Ausstellung“.
Digitale Hilfsmittel
Wie Kyncl lebt auch Trnka gemeinsam mit seiner Familie außerhalb von Prag. Er hat dort ein Haus mit Garten, in dem es immer viel Arbeit gibt. „Der Garten ist eines meiner Hobbys. Ansonsten reise ich gern, mache gemeinsam mit meiner Frau Ausflüge, im Sommer fahre ich Kanu, außerdem gehen wir auf Konzerte oder ins Theater“, so Trnka. Kyncl, der erst vor kurzem Vater geworden ist, liest in seiner Freizeit viel – doch gerade bleibt ihm dafür nur noch wenig Zeit. Um den Haushalt und die Erziehung kümmern sich er und seine ebenfalls blinde Frau ganz alleine. „Heutzutage lesen wir nicht mehr in Blindenschrift, sondern wir besorgen uns Hörbücher oder bedienen uns in der digitalen Bibliothek für Blinde. Dort finden wir viele Texte, die wir uns ganz einfach online herunterladen und dann vorlesen lassen können.“ Betreut wird die Bibliothek, in der sich mehrere Tausend Titel befinden, von der Organisation der Blinden Tschechiens (SONS).
Kyncl und sein Kollege schätzen die Vorteile der digitalen Medien und des Internets. „Das Internet hat vieles verändert. Heutzutage ist es ganz einfach, sich E-Mails mit jemandem zu schreiben oder zu chatten. Die andere Person weiß nicht einmal, ob ich blind bin oder nicht.“ Und Trnka betont: „Die Blindenschrift hat immer eine Hürde zwischen Blinden und Sehenden dargestellt, jetzt ist das viel besser.“ Auch die Ausbildungschancen für Blinde und Sehschwache hätten sich verbessert: Studenten können sich Unterrichtsmaterialien wie Lehrbücher oder Vorlesungsskripte durch einen Screenreader vorlesen lassen.
Ergänzend zur „Unsichtbaren Ausstellung“ finden Besucher im Neustädter Rathaus weitere Informationen über das Leben von Blinden sowie speziell ausgestattete Alltagsgegenstände, zum Beispiel Lineale oder Brettspiele. Interessierte haben außerdem die Möglichkeit, ihre Geschmacksnerven und den Geruchssinn bei einem „Unsichtbaren Abendessen“ oder einer „Unsichtbaren Weinverkostung“ auf die Probe zu stellen. Und wer am 18. Oktober den Prager Masaryk-Bahnhof besucht, kann dort noch ein Stück mehr aus der Welt ohne Sehsinn kennenlernen und ausprobieren, wie man ein Essen kocht, ohne zu sehen, was man gerade auf dem Küchenbrett liegen hat, oder sich von einem Leithund durch den Bahnhof führen lassen. Die Veranstaltung wird anlässlich des Internationalen „Tag des weißen Stocks“ am 15. Oktober organisiert.
Neviditelná výstava Praha (Unsichtbare Ausstellung Prag). Neustädter Rathaus (Karlovo náměstí 1/23, Prag 2), geöffnet: Montag bis Freitag 12 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 20 Uhr, Eintritt: 200 CZK (ermäßigt 170 CZK), bis 31. Dezember, Führungen auch auf Englisch, Anmeldung unter www.neviditelna.cz
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