Beten und arbeiten

Beten und arbeiten

Die Prager Benediktinerinnen haben weltliche Berufe und einen Straßenbahnanschluss, aber sie wohnen in einer Oase mit klaren Regeln. Ein Besuch im Kloster

15. 10. 2014 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: privat

Hinter der Klostermauer wartet die erste Überraschung. Schwester Anežka begrüßt mich in Hose und Bluse, die dunkelblonden Haare sind unbedeckt. Eine Nonne habe ich mir anders vorgestellt, denke ich, während Anežka mir das Zimmer zeigt, in dem ich übernachten werde. Warum die vier Benediktinerinnen ihre Ordenstracht nur zum Gebet tragen, werden sie mir am nächsten Morgen erklären: Es hängt mit der Tradition ihrer Kommunität Venio zusammen, die ihre Anfänge 1926 in München nahm: Die Frauen der Gemeinschaft sind und waren von Beginn an berufstätig und haben sich immer schon selbst finanziert. Zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen sie in ziviler Kleidung, der Habit ist allein für Gottesdienst und Gebet reserviert.

Das gilt auch für Anežka und ihre Mitschwestern, die vor sieben Jahren von München nach Prag gingen, um ihre Gemeinschaft als eine Art Außenstelle des Venio-Klosters zu gründen. Ihr Zuhause wurde das Barockareal um die Wallfahrtskirche Maria de Victoria auf dem Weißen Berg (Bílá hora) im Prager Westen.

Der Wecker klingelt um 5.40 Uhr. Zwanzig Minuten später eile ich durch den Garten zur Kapelle. Die Schwestern sind schon da, sie sitzen auf den Bänken links und rechts des kleinen Altars, auf dem eine Kerze leuchtet. Jetzt tragen sie ihre schwarzen Gebetsmäntel und Schleier. Nach einigen Minuten Schweigen beginnt das Morgengebet. Ich frage mich, wo die vierte Schwester ist und bemühe mich, in das tschechische Gebet einzustimmen – aber so klar wie die Stimmen der Nonnen klingt meine in diesen Morgenstunden nicht. Ich muss mich konzentrieren, um in den richtigen Momenten aufzustehen, den Kopf zu senken, mich wieder zu setzen.

Nach etwa einer halben Stunde verlassen die Schwestern die Kapelle. Am Abend vorher hat mir Anežka gesagt, dass sie zwischen Gebet und Gottesdienst nicht sprechen; ich genieße die Stille, bis die Schwestern sich umgezogen haben. Die Messe findet bei den Benediktinermönchen im Kloster Břevnov statt, wir fahren mit der Straßenbahn. Das Kloster liegt direkt an der Endhaltestelle der Linie 22. Dort warten schon einige Menschen, die zur Arbeit wollen oder noch auf der Suche nach einem Schlafplatz sind, manche mit einer Flasche Bier in der Hand. Die Schwestern sind wieder zivil gekleidet.

Das Gebet verschlafen
An der Haltestelle „Kloster Břevnov“ steigen wir aus. Die Nonnen gehen bei Rot über die Ampeln an der vierspurigen Patočka-Straße und mit schnellen Schritten in Richtung Klosterkirche. Sie nehmen einen vorderen Eingang, weil sie dort ihre Gewänder für die Messe haben. Ich betrete die Kirche durch den Haupteingang. Außer den Schwestern und einer Handvoll Mönchen, die allesamt vorne Platz nehmen, sind etwa ein Dutzend Gläubige gekommen. Auf den hinteren Bänken entdecke ich später Schwester Francesca in Jeans und Pullover. Sie habe verschlafen, wird sie mir nach dem Frühstück erzählen, und sei dann noch schnell zur Messe gerannt. Von ihren Mitschwestern habe sie deswegen keine Rüge zu befürchten, am meisten habe sie sich ohnehin selbst darüber geärgert, dass sie das Morgengebet verschlafen hat, sagt die 41-Jährige, die mit 35 in den Orden eingetreten ist und im Gegensatz zu den anderen drei Frauen noch nicht die Ewige Profess, das unbefristete Ordensgelübde, abgelegt hat.

Auf dem Rückweg reden die Schwestern zum ersten Mal an diesem Tag miteinander. Ich frage mich, was Nonnen wohl frühstücken. Als ich kurz nach acht das Refektorium betrete, ist der Tisch bereits gedeckt. Beim Frühstück wird wieder geschwiegen. Mit Blicken, Gesten und wenigen leisen Worten werde ich gefragt, ob ich Tee oder Kaffee möchte und Obst oder Marmelade zum Müsli. Es gibt Haferflocken mit Joghurt und Milch, Käse, Wurst und Schinken, Karotten und Tomaten, Honig und getoastetes Schwarzbrot. Das Schweigen ist gewöhnungsbedürftig. Ich genieße den Blick aus dem Fenster und entdecke an der Wand einen mehrere Jahrhunderte alten Plan des heutigen Kloster-Areals. Er wurde im Archiv in Břevnov entdeckt. Bis heute gehört das Gelände den Mönchen dort, die Schwestern haben es günstig gemietet, erzählen sie mir nach dem Frühstück.

Bis zum Mittagsgebet haben die Nonnen sich an diesem Samstag Zeit für Gespräche mit mir genommen. Den Anfang macht Schwester Anežka, auf deren Initiative die Gründung der Gemeinschaft in Prag zurückgeht. Sie arbeitet als Bauingenieurin selbstständig und in einem Architekturbüro, im Moment kümmert sie sich um das Gästehaus des Klosters. Ihre Kollegen außerhalb erfahren manchmal erst nach ein paar Jahren, dass sie Nonne ist – manche sprechen sie dann plötzlich mit „Schwester Anežka“ an, andere bleiben bei ihrem Taufnamen Marie. „In zivil“, meint Anežka, könne man gerade die vielen ungläubigen Tschechen besser ansprechen als in Ordenstracht. Von den drei tschechischen Nonnen ist sie die einzige, die aus einer katholischen Familie stammt. Als sie kurz vor der Wende, mit Anfang 20, beschloss, ins Kloster einzutreten, gab es dazu in Tschechien keine Möglichkeit. Die letzten Benediktinerinnen hatten das Land bereits 1919 verlassen. Über Polen kam Anežka zu den Münchner Benediktinerinnen. Als weitere Tschechinnen hinzukamen, erklärte man sich dort bereit, die Gründung einer neuen Klostergemeinschaft in Prag zu betreuen.

Auch Schwester Petra hat den Umweg über Polen und München gemacht. Mit 18 hat sie sich taufen lassen; für ihre atheistische, im Kommunismus verwurzelte Familie sei das sehr schwierig gewesen. Als sie drei Jahre später ins Kloster eintrat, hatte sie einen Bachelorabschluss in Wirtschaft, heute studiert sie Restaurierung und arbeitet in einer kleinen Werkstatt direkt im Kloster. An diesem Samstagvormittag versorgt sie außerdem einen Obdachlosen, der regelmäßig zum Laubkehren kommt. „Wir leben hier ein bisschen in einer Oase mit klaren Regeln und klaren Rhythmen“, sagt Petra. Dazu gehöre, dass innerhalb der Klostermauern jedem Menschen mit Würde begegnet werde. „Gottes Gesetze sollen hier spürbar sein.“

Rhythmus als Rettung
Schwester Francesca hat wieder einen anderen Hintergrund: Sie arbeitet als Landeskoordinatorin der Aktion Sühnezeichen und gehörte zuerst der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder an. Eine Zeit lang war sie in der evangelischen und in der katholischen Kirche aktiv, zu letzterer fühlte sie sich hingezogen, obwohl Vatikan und Papst ein rotes Tuch für sie waren. „Das war absurd“, beschreibt Francesca ihre damalige Situation. Das Gefühl, im Kloster leben zu wollen, war letztendlich stärker als die Skepsis. Nach dem Noviziat befindet sich Francesca derzeit im Juniorat, das die Schwestern vor der Ewigen Profess absolvieren. Die Kombination aus Arbeit und Kloster beschreibt die 41-Jährige als „große Spannung“ und „super“. Der Rhythmus des Klosterlebens sei für sie eine Rettung, auch wenn sie es manchmal nicht pünktlich zum Gebet am Abend schafft, weil die Straßenbahn Verspätung hat.

Die vierte der Nonnen kommt aus Deutschland. Schwester Birgitta ist 1969 bei den Benediktinerinnen eingetreten, hat in Psychologie promoviert und bis zur Rente immer Vollzeit gearbeitet. Als sich die neue Gemeinschaft in Prag gründete, glaubten die Schwestern in München, dass es besser sei, eine erfahrene Nonne mitzuschicken – die Wahl fiel auf Birgitta. Heute ist sie 75 und kümmert sich unter anderem um die Korrespondenz nach München, die Finanzen sowie einen Großteil des Haushalts, wenn die anderen in der Arbeit sind, außerdem lernt sie Tschechisch. Bei der Frage, was es heiße, eine Benediktinerin zu sein, überlegt Schwester Birgitta lange. „Der Liebe zu Jesus Christus nichts vorzuziehen und dem Gottesdienst nichts vorzuziehen“, sagt sie schließlich.

Nach dem Interview ist es Zeit für das Mittagsgebet in der Kapelle, anschließend wird wieder geschwiegen. Beim Mittagessen liest immer eine der Schwestern den anderen erst aus der Bibel und dann aus einem anderen Buch vor. Heute ist es eine Schrift von Papst Franziskus über den Umgang mit den Armen. Dazu gibt es Kürbissuppe, anschließend Couscous mit Zucchini und Auberginen. Sinngemäß sehe die Ordensregel vor, dass es eine Auswahl an Speisen geben soll, „das heißt, man soll keinen Grund zu murren geben“, erklärt Anežka. Außerdem sei vorgesehen, dass immer auch Obst und Gemüse auf den Tisch kommen. Dass alle zusammen essen, ist wichtiger Bestandteil des Klosterlebens, auch wenn sich die Schwestern dabei nicht unterhalten. „Man soll sich nicht nur physisch nähren, sondern auch geistig, deswegen lesen wir beim Essen“, so Anežka.

Als ich mich am Nachmittag verabschiede und für die Gastfreundschaft bedanke, lädt Anežka mich ein wiederzukommen. Auch wenn ich Besuch von meiner Familie habe, oder von meinem Freund, sagt sie. Als sich das große Eingangstor des Frauenklosters hinter mir schließt, überlege ich, wie sie das gemeint hat.