Die Kluft zwischen den Geschlechtern
In kaum einem anderen europäischen Land werden Männer und Frauen so ungleich behandelt wie in Tschechien
5. 11. 2014 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: lago4096
Das Bild sagt mehr als alle Worte: Eine Frau ist von der Taille bis kurz übers Knie zu sehen, im dunkelblauen Kleid. Hauteng, extrem kurz. Der Blick des Betrachters fällt auf die nackten Oberschenkel. „Frau mit Handtasche“ lautet die Bildunterschrift. Ein seriöser tschechischer Nachrichtenserver hat das Motiv der Frau ohne Kopf gewählt, um einen Artikel zum Thema Gleichberechtigung zu illustrieren. Wer wissen will, wie es um die Rolle der Frau in Tschechien steht, kann auch die Kommentare zum Artikel zu lesen: „Wollen wir wirklich überall Frauen haben? Man sieht sie heute schon dort, wo es früher nur Männer gab“, schreibt ein Leser. Ein anderer erklärt: „Sie sind vielleicht dumm, aber meistens sind sie hübsch und ein tschechisches Mädchen mit einer schönen Hüfte steckt die beste deutsche Managerin in die Tasche.“
Die Aussagen sind zwar nicht repräsentativ. Die Ergebnisse eines in der vergangenen Woche veröffentlichten Gleichstellungsberichts fallen jedoch ebenso ernüchternd aus: Tschechien liegt auf Platz 96 des aktuellen „Global Gender Gap Index“, einer Rangliste, die die Gleichstellung von Mann und Frau in 142 Ländern bewertet und vom Weltwirtschaftsforum (WEF) herausgegeben wird. 2006 war Tschechien noch auf Platz 53 gelandet, im vergangenen Jahr auf Rang 83. Jetzt ist das Ergebnis noch schlechter ausgefallen. Glaubt man den Zahlen allein, sind Frauen in Tschechien etwa genauso gleichberechtigt wie in China, Indonesien oder Bangladesch. Weiter hinten liegen mit Ausnahme von Malta (Rang 99.), Japan (104), Südkorea (117) und der Türkei (125) vor allem Entwicklungsländer.
Betrachtet man das Ergebnis im Detail, können die Tschechinnen zumindest teilweise aufatmen. Während es in vielen Entwicklungsländern in allen vier untersuchten Bereichen – Wirtschaft, Politik, Gesundheit und Bildung – ungerecht zugeht, liegt Tschechien in den beiden letztgenannten Kategorien weit vorne: Frauen sind hierzulande statistisch betrachtet gesünder als Männer und haben eine höhere Lebenserwartung. Außerdem sind sie im Vergleich zu den Männern besser gebildet – in dieser Kategorie belegt Tschechien sogar Platz eins der weltweiten Rangliste.
Schlecht schneidet das Land dagegen in den Bereichen Politik und Wirtschaft ab. Zu den größten Problemen zählt, dass Frauen im Durchschnitt sowohl in der freien Wirtschaft als auch im öffentlichen Sektor deutlich weniger verdienen als Männer. Im öffentlichen Dienst waren es in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres etwa 17 Prozent weniger Bruttoeinkommen, in der freien Wirtschaft 23 Prozent.
Maßnahmen geplant
Tschechische Politiker haben auf den Report handlungsbereit reagiert. Arbeitsministerin Michaela Marksová Tominová (ČSSD) – eine von drei Ministerinnen in der aktuellen Regierung – will mit ihrer Behörde demnächst mit gutem Beispiel vorangehen. In ihrem Ministerium lässt sie gerade die Gehälter aller Männer und Frauen analysieren. Menschenrechtsminister Jiří Dienstbier (ČSSD) will mit einer Änderung des Wahlgesetzes für mehr Frauen in der Politik sorgen. Seinen Vorschlag für eine verbindliche Quoten-Regelung für Kandidatenlisten will er im Januar vorlegen. Außerdem wurde nach der Veröffentlichung der Rangliste bekannt, dass die Regierung bis 2020 einen Anteil von 40 Prozent Frauen in Führungspositionen durchsetzen will. In einem Strategiepapier schlägt sie Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Geschlechter vor. Thematisiert werden neben den deutlichen Verdienstunterschieden auch Möglichkeiten, mehr Männer für Lehrer- und Pflegeberufe zu gewinnen.
Wer vorsichtig optimistisch ist, könnte meinen, die Regierung hat erkannt, was der Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums bei der Präsentation der Ergebnisse formulierte: „Die Gleichbehandlung der Geschlechter zu erreichen, ist aus wirtschaftlichen Gründen notwendig. Nur die Wirtschaften, die alle Talente nutzen, werden in Zukunft konkurrenzfähig sein und gedeihen.“ Andererseits: Gesetzliche Vorgaben allein werden die Situation wohl kaum ändern, meint Jana Smiggels Kavková, Leiterin der Nichtregierungsorganisation Forum 50%, die sich unter anderem für mehr Frauen in Führungspositionen einsetzt. Die tschechische Gesellschaft sei sehr konservativ, sagt Smiggels Kavková. „Vorurteile sind sehr stark verwurzelt und die Rollenverteilung ist traditionell.“
Immerhin: Der Nachrichtenserver hat das Bild der Taille mit Oberschenkeln inzwischen ausgetauscht. Jetzt ist eine junge Frau mit großen Ohrringen zu sehen, die Jeans und eine weiße Bluse trägt. Die Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, ein Laptop auf dem Schoß verdeckt den Blick auf den Oberkörper. Die Kommentare sind allerdings immer noch da.
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten