Aus Prager Betten und Nächten
Wer im Hostel übernachtet, hat oft eine Menge Geschichten im Gepäck. Eine Insiderin erzählt von ihren Erlebnissen an der Rezeption
5. 11. 2014 - Text: Katharina WiegmannText und Foto: Katharina Wiegmann
„Erst die Bürger, dann die Touristen“ – nur wenigen Stadtbesuchern dürften die Plakate aufgefallen sein, die vor den Kommunalwahlen im Prager Zentrum hingen. Die Koalition aus Grünen, unabhängigen Kandidaten und einer Bürgerinitiative protestierte gegen lärmende Junggesellenabschiede und rücksichtslose Segway-Gruppen. Dass es den Bewohnern im Zentrum manchmal reicht, wundert nicht angesichts der Zahlen des Prager Stadtmarketings: Allein im ersten Halbjahr 2014 übernachteten etwa zwei Millionen Touristen in der tschechischen Hauptstadt. Aber bringen all diese Gäste wirklich nur Ärger? Was suchen sie in Prag? Und wo kommen sie unter?
Ein großer Teil, vor allem die Jüngeren, reserviert ein Zimmer oder auch nur ein Bett in einem Hostel – mehr als hundert dürfte es davon inzwischen in der Stadt geben. Hostels sind günstige Unterkünfte, die klassische deutsche Jugendherberge trifft es als Übersetzung nicht ganz. Die Gäste sind amerikanische Rucksackreisende, die in Europa das große Abenteuer suchen, Japaner mit straff durchorganisiertem Programm, deutsche Pärchen auf Wochenendurlaub. Manche wollen Geld sparen. Vielen geht es aber vor allem darum, ihre Zeit in der Fremde nicht allein zu verbringen. Sie wollen andere Reisende kennenlernen, mit dem Übernachtungspreis am liebsten auch ein Rundum-Paket an Unterhaltung buchen und beim Frühstück mit Insider-Tipps versorgt werden.
So nah dran wie die Rezeptionisten dieser Hostels ist wohl kaum jemand an der Prager Touristenwelt – an den schönen, hässlichen, interessanten, manchmal erschreckend langweiligen und bisweilen abstoßenden Seiten. Ich bin eine von ihnen. Seit Januar arbeite ich in verschiedenen Prager Hostels.
Kuriose Situationen
Mein Prager Abenteuer begann in einem zentrumsnahen Stadtteil, der einst einen schlechten Ruf hatte, inzwischen aber immer mehr Berlin-Kreuzberg ähnelt: alternative Szene, Bars, gemütliche Cafés. Mittendrin ein bestenfalls halblegales Etablissement mit etwa 80 wackeligen Betten. Aus bürokratischer Sicht ein Alptraum – vielleicht war den zuständigen Behörden der Arbeitsaufwand, der in diesem Haus steckte, durchaus bewusst und sie vermieden eine Kontrolle genau aus diesem Grund. Günstige Preise in Kombination mit einer eher entspannten Haltung gegenüber Regeln und Vorschriften lockten eine entsprechende Klientel an. Zudem hatte das gesamte Rezeptions-Team einen eher links-alternativen Hintergrund – ganz im Gegensatz zu den kommerziellen Ambitionen des amerikanischen Besitzers. Jedenfalls tat man sich grundsätzlich schwer damit, Gästen, die neben ihren Klamotten offensichtlich auch einige Probleme im Gepäck hatten, eine Herberge zu verwehren. Das bescherte uns manch kuriose Situation.
Fast zwei Wochen dauerte es zum Beispiel, bis wir ein auf den ersten Blick durchaus solide wirkendes Pärchen wieder verabschieden konnten, das in einer schweren Lebens- und Beziehungskrise steckte, die lautstark in den Gängen des Hostels ausgetragen wurde. Der anfänglich aus Richtung des Zimmers wehende Marihuana-Geruch hatte wohl noch eine befriedende Wirkung; als die Ressourcen der Beiden zunehmend schwanden, wurden die Konflikte intensiver, die Rezeption zur vermittelnden Instanz: „Du kannst ihr sagen, dass wir fertig miteinander sind, mit der rede ich kein Wort mehr und für ihre Übernachtung bezahle ich auch nicht“, zürnte der männliche Part des Duos, kurz bevor die Polizei auftauchte und ihn ohne große Erklärung einfach mitnahm.
Ein anderes Mal hatten wir einen E-Mail-Wechsel mit einem indischen Vater zu bewältigen, der sich große Sorgen um seinen Sohn machte. Dieser hatte das Hostel seit Tagen nicht verlassen, geisterte in Zeitlupe durch die vier Stockwerke und nahm nur ab und zu Kontakt zu anderen Gästen auf, um zu fragen, ob sie Interesse daran hätten, ein Kleidungsstück mit ihm zu tauschen.
Szenenwechsel. Ein professionell geführtes Hostel im Prager Stadtzentrum. Sichtbeton, Naturholz, Designer-Badezimmer. Die im Durchschnitt eher wohlhabenden Gäste kämpfen hier mit den klassischen Herausforderungen mehrwöchiger Interrail-Trips durch die europäischen Hauptstädte: Wie lassen sich in wenigen Tagen möglichst viele Sehenswürdigkeiten abklappern? Zwei erschöpfte Koreanerinnen kann ich auf ihre Nachfrage hin beruhigen: Noch hat die Prager Altstadt keine Öffnungszeiten, sie können sie trotz später Ankunftszeit noch besichtigen, damit ihnen am nächsten Tag genügend Zeit für Karlsbrücke, die Burg oder einen Ausflug nach „CK“ bleibt.
Ein Taxi nach Budapest
CK, so lernte ich, wird in asiatischen Reiseführern als Kürzel für das mittelalterliche Städtchen Český Krumlov verwendet. Selbst sprachlich wird effizient gearbeitet. Bei so viel Programm ist es kein Wunder, dass ab und zu Verwirrung auftritt. Einem argentinischen Gast, der auf seinem Stadtplan die Kettenbrücke sucht, kann ich weiterhelfen – diese überspannt die Donau im ungarischen Budapest, der nächsten Station seiner Reise. Vielleicht hätte er sich gleich seinem amerikanischen Mitreisenden anschließen sollen, der am Vormittag ein Taxi eben dorthin geordert hat – und den genannten Preis bei all den Fremdwährungen hoffentlich richtig abschätzen konnte, bevor er ihn akzeptierte.
Andere Prag-Besucher nehmen sich mehr Zeit, sie wollen ganz genau wissen, wo sie sind. Sie begeben sich auf die Suche nach dem Leben hinter den prunkvollen Fassaden, abseits der organisierten Touren. Sie kommen glücklich von ihren Spaziergängen durch den Letná-Park zurück, von einem Bummel über den Bauernmarkt am Moldauufer, aus der DOX-Galerie, dem Messepalast oder von einem Nachmittag in einem abgelegenen Café. Vielleicht haben sie im Rieger-Park die Sonne hinter der Burg untergehen sehen, sind in einer der legendären Kneipen in Žižkov versackt oder in Hinterhöfen der Kunst von David Černý begegnet. Sie bringen Geschichten aus anderen Ländern und Städten mit, teilen sie mit den anderen Hostel-Bewohnern und tragen ihre Erlebnisse und Erinnerungen weiter. Damit sind sie eine Bereicherung für Prag.
An einem ruhigen Nachmittag im Oktober steht ein solch offenherziges Trio vor mir: Zwei Brüder, die mit ihrem Vater aus Saudi-Arabien angereist sind. Das vor der Tür geparkte Auto lässt darauf schließen, dass die Wahl auf den Schlafsaal mit zehn Betten nicht aus Sparsamkeit fiel. Sie wollen sich mit anderen austauschen, erzählen sie mir, bevor sie sich einer Gruppe anschließen, die zu einer Kneipentour aufbricht – obwohl sie selbst keinen Alkohol trinken. Am nächsten Morgen bringt mir unser Manager eine Tasse Kaffee, den die drei Herren zu Hause selbst geröstet und soeben in der Gemeinschaftsküche aufgebrüht haben. Sie werden daheim von mehr zu erzählen haben als von billigem Alkohol und schmuddeligen Nachtclubs.
Auf unbestimmte Zeit verschoben
Neue Formen des Unterrichts