Ein „langer Blick“ auf Kafkas Leben
Reiner Stach hat mit seiner dreibändigen Biographie dem Begründer der literarischen Moderne ein großartiges Monument geschaffen
19. 11. 2014 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: S.Fischer
Sollte jemand geglaubt haben, über Franz Kafka und sein Werk sei 90 Jahre nach seinem Tode schon alles gesagt und geschrieben worden, so hat ihn Reiner Stach mit der Vollendung seiner dreibändigen und rund 2.000 Seiten umfassenden Kafka-Biographie eines Besseren belehrt. Nach insgesamt 18 Jahren Arbeit hat Stach Ende September dieses Jahres den dritten Band seiner Trilogie vorgelegt: „Kafka. Die frühen Jahre“. Stach hatte sich schon in den achtziger Jahren als Literaturwissenschaftler mit einer akademischen Arbeit zu Kafka („Kafkas erotischer Mythos“, 1987) einen Namen gemacht. Dann, nach Jahren als Lektor und Herausgeber von Sachbüchern, begann er 1996 mit der Arbeit an seiner Kafka-Biographie, deren drei Bände im Abstand von jeweils sechs Jahren erschienen: „Kafka. Die Jahre der Entscheidungen“ 2002, „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis“ 2008 und nun eben der dritte und letzte Band, der Kindheit, Jugend und das Erwachsenwerden des Protagonisten zum Gegenstand hat.
Den neuen Band hat der Autor in der vergangenen Woche im Prager Goethe-Institut einem interessierten Publikum, das den Saal bis auf den letzten Platz füllte, vorgestellt. Der tschechische Diplomat und Schriftsteller Tomáš Kafka (nicht mit dem Dichter verwandt) leitete die Diskussion, an der neben Stach auch Josef Čermák, ein durch eigene Publikationen ausgewiesener Kenner Kafkas, teilnahm.
Čermák, der das Fehlen einer tschechischen Kafka-Biographie beklagte, wird gefreut haben, was Berthold Franke, der Leiter des Goethe-Instituts, einleitend sagte: Alles soll unternommen werden, bald eine tschechische Übersetzung von Stachs Opus magnum in Kafkas Heimatstadt herauszubringen. Nach Stach stand am Anfang des umfangreichen Projekts die Erkenntnis, dass es keine deutsche Kafka-Biographie gab, die den gestiegenen Ansprüchen an eine moderne Biographie genügt hätte. Dies bei einer kaum noch zu überblickenden Menge an Monographien, Handbüchern und Aufsätzen zu Kafkas Leben und Werk, einem Berg, der noch ständig höher wuchs.
Auf der Grundlage von zwei Probekapiteln überzeugte Stach seinen Verlag, das Wagnis einzugehen. Allen Beteiligten war dabei klar, dass die von Stach gewählte „romantechnische“ Erzählweise einen Umfang von drei ansehnlichen Bänden zur Folge haben musste – dass also ein langer und risikoreicher Weg bevorstand. Den in 18 Jahren zu absolvieren war nur möglich, weil der Autor das Glück hatte, sich aufgrund von Fördermitteln fast ausschließlich auf dieses „Hauptgeschäft“ zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang verwies Stach auf das Kontrastbeispiel des nicht minder ambitionierten Vorhabens von Nicholas Boyle, eine neue mehrbändige Goethe-Biographie vorzulegen: Nach den ersten beiden 1991 und 1999 begeistert aufgenommen Bänden wartet die Fan-Gemeinde seit 15 Jahren sehnsüchtig auf den dritten (und vielleicht noch vierten) Band; Boyle, anders als Stach, hat sich nämlich nicht von seinen anderen Verpflichtungen befreit.
Die Form des „szenischen Erzählens“, die Stach – auch in bewusster Absetzung von einer Werkbiographie – gewählt hat, nimmt der Lektüre nicht nur jede Anstrengung, sondern macht sie zu einem Vergnügen. Imre Kertész lobte das Werk, wie dem Schutzumschlag zu entnehmen ist, es sei „selbst ein Roman“. Gleichwohl hat die Biographie nichts Fiktionales, alles hat der die Quellen und die ausufernde Sekundärliteratur souverän überblickende Biograph belegt. Wo die Quellen versagen und ein Datum, eine Begegnung, ein Ereignis nur „sehr wahrscheinlich“ so stattgefunden hat, ist dies unter sorgfältiger Abwägung der Indizien vermerkt.
Historische Empathie
Auf diese Weise gelingt es Stach, chronologisch und gleichzeitig themenbezogen Kafkas Lebensumwelt Seite für Seite auszuleuchten und so dem Leser das Netz von Bedingungen und Einflüssen plastisch vor Augen zu stellen, das von Kindheit an auf den Protagonisten einwirkte und ihn prägte. Diese „historische Empathie“ bringt uns den Helden der Erzählung nicht durch ohnehin meist allzu platte und darum zweifelhafte Parallelen zwischen Werk und Leben näher, sondern indem sie uns über unser Einfühlungsvermögen hilft, ihm als Menschen in seiner konkreten Lebenswirklichkeit so nahe wie möglich zu kommen. Stach weiß, dass auch diese Methode an Grenzen stößt, dass sich uns das wahre Leben Kafkas immer entziehen wird: „Aber ein vergänglicher Blick darauf, ein langer Blick, ja, vielleicht, das müsste möglich sein.“
Der Aufwand dafür ist immens. Immer wieder treffen wir auf Exkurse, die den konfliktreichen historischen, sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Hintergrund ausmalen. Die Kunst der Synthese ist bewundernswert; jedem dieser Exkurse ist auch ohne überbordenden Anmerkungsapparat anzumerken, dass er auf breiter Recherche beruht und ein wohlabgewogenes Kondensat bietet. Viel ist hier über das Prag um die Jahrhundertwende zu lernen, gründlich räumt Stach mit der oft verklärenden Vorstellung von Prag als einer einzigartigen Symbiose verschiedener Kulturen auf, und gekonnt leitet er daraus immer wieder die auf den heranwachsenden und später erwachsenen Kafka einwirkenden Impulse ab. So wird zum Beispiel im Kapitel „Jüdische Lektionen“ deutlich, wie das sich verschärfende „antisemitische Syndrom in Österreich-Ungarn“ allmählich eine „diffuse Angst“ verbreitete, „von den immer stärker auftrumpfenden national gesinnten Tschechen in Haftung genommen zu werden für alles, was deutsch war“, eine Angst, die gewiss auch bei Kafka unterschwellig zu Gefühlen der Unsicherheit und Heimatlosigkeit beitrug.
Wer sich nun die Lektüre dieser großen Biographie vornimmt und die beiden schon früher erschienenen Bände noch nicht gelesen hat, der sollte zunächst die ausführliche Einführung lesen, die dem 2002 erschienenen Band vorangestellt ist, der Kafkas Lebensjahre von 1910 bis 1915 behandelt. Es ist dies nämlich die Einführung in das Gesamtwerk, in der Stach nicht nur den Platz seiner Kafka-Biographie im Kontext der Literatur über Kafka zu bestimmen sucht, sondern wo er auch über die Kunst der Biographik Grundsätzliches zu sagen weiß. Die in letzter Zeit publizierten Biographien hätten das Niveau gegenüber der früheren „Konfektionsware“ erheblich angehoben und es sei die Frage zu stellen, „ob man die Biographie nicht als eigenständige literarische Kunstform endlich nobilitieren sollte“. Bei der Lektüre ist nicht zu verkennen, dass Stach ein solches Adelsprädikat für seine Trilogie angestrebt hat, und deren einhellig positive Aufnahme von Lesern und Kritik scheint es ihm schon verliehen zu haben.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?