Wo Prags glücklichste Kühe leben
Plattenbauten und Heuhaufen: Auf dem „Toulcův dvůr“ in Hostivař lernen Besucher das Landleben kennen. Mitten in der Großstadt
19. 11. 2014 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton
Die Hühner gackern, das neugeborene Kalb schmiegt sich an seine dicke Mutter. An den Schuhen klebt Schlamm und Stroh. Es riecht nach Urlaub auf dem Bauernhof und ein bisschen sieht es auch so aus, aber nur auf einer Seite. Der „Toulcův dvůr“ ist Biobauernhof und Bildungszentrum, Kindergarten und Arbeitgeber für Menschen, die in der freien Wirtschaft keine Chance auf eine Anstellung haben. Er liegt im Prager Südwesten zwischen dem alten Ortskern der ehemals eigenständigen Gemeinde Hostivař und einer grauen Wohnsiedlung, deren Hochhäuser über zehn Etagen und mehr in den Himmel ragen. Ein Stück Landleben inmitten der Großstadt.
„Kinder müssen raus, sie brauchen Kontakt zu Tieren und anderen Kindern, nicht nur den Computer“, sagt Lenka Skoupá. Für die gemeinnützige „Interessengemeinschaft Toulcův dvůr“ kümmert sie sich um die Tiere und die Finanzen. Als sie vor 14 Jahren auf dem Hof zu arbeiten begann, habe es 25 Angestellte gegeben, erzählt Skoupá, heute seien es etwa 100. Für mehrtägige Kurse wurde auf dem Gelände ein kleines Hostel eingerichtet, in dem die Teilnehmer übernachten können.
In einem Lokal wird gesund und wenn möglich mit selbst angebautem Gemüse gekocht, heute gibt es Suppe aus Hülsenfrüchten, Huhn auf Paprika und gegrillten Kürbis mit Couscous für Angestellte und Besucher. Für Letztere ist das Gelände täglich von 8 bis 18 Uhr kostenfrei zugänglich. Veranstaltungen wie Basare, Märkte oder Vorträge kosten entweder wenig oder gar nichts. Fördergelder bekommt der Hof zum Beispiel von der Stadt, die zugleich Eigentümerin des Areals ist, und von der EU.
Arche Noah auf Tschechisch
Zu den Aufgaben der 49-jährigen Skoupá zählt deswegen auch die Lobbyarbeit bei Politikern. Den Vortag hat sie jedoch im Kuhstall verbracht, um dem Rindernachwuchs auf die Welt zu helfen. Das junge Kalb und seine Mutter Fidorka gehören wie die meisten Nutztiere auf dem Hof einer traditionellen tschechischen Rasse an. Unter dem Namen „Česká červinka“ wurden die dunkelbraunen Rinder hierzulande vor allem bis Mitte des 19. Jahrhunderts gezüchtet. Heute gibt es in Tschechien nur noch wenige dieser Tiere. Zwei davon sind Fidorka und ihr Kalb, das einer alten tschechischen Tradition folgend erst nach sechs Monaten einen Namen bekommen soll.
Wie die Walachei-Schafe (aus der Mährischen Walachei) und die weißen Kurzhaarziegen haben die Rinder auf dem Hof in Hostivař ihre „Arche Noah“ gefunden – so heißt das Projekt des „Toulcův dvůr“, das sich für den Erhalt der vom Aussterben bedrohten tschechischen Nutztierarten einsetzt. Auch die schwarz-rosa-gestreiften Schweine gehören zu den Bewohnern der Arche, außerdem Bienen und Gänse, Hasen und Pferde.
Wie es die landwirtschaftliche Tradition will, werden die Tiere nicht nur zum Füttern und Streicheln gehalten. Sie werden zum Beispiel an Biobauernhöfe weiterverkauft, manche landen irgendwann als Öko-Fleisch auf einem Teller, erklärt Daniel Škvařil, der als Koordinator für die Interessengemeinschaft arbeitet. Der „Toulcův dvůr“ verfolgt das „Welfare“-Konzept. Hinter dem englischen Namen steckt ein einfacher Gedanke: Die Nutztiere sollen ein gutes Leben haben.
Gleichzeitig sind sie aber auch Hauptdarsteller vieler Angebote auf dem Hof. Denn nicht nur die Arten sollen erhalten werden, auch das Wissen, wie man mit Tieren umgeht, wo die Milch herkommt und woher ein Schweinebraten, soll auf dem Hof an jüngere Generationen weitergegeben werden. Immer mehr Schulen aus Prag und Umgebung schicken deswegen Kinder und Jugendliche zu Kursen und Veranstaltungen auf den Bauernhof. Es gehe darum, Traditionen zu bewahren, die auch in manchen Dörfern schon in Vergessenheit geraten seien, sagt Škvařil. Wie Skoupá ist auch er auf dem Land aufgewachsen. Im Kontakt mit den Tieren würden Kinder zudem Empathie und Verantwortungsbewusstsein entwickeln, meint der 32-Jährige.
Wie das in der Praxis funktioniert, kann man an einem nasskalten Vormittag beobachten. Zwischen den Tiergehegen wimmelt es nur so von bunten Gummistiefeln. In Regenjacken verpackt erkunden kleine Besucher den Hof mit ihren Schulklassen, die jüngsten werden von den Großeltern durch den Nieselregen geführt und auf die Schulter gehoben, damit sie besser auf die alttschechischen Hausschweine sehen können. Andere sind auf dem Hof zuhause: Sie gehen in den Kindergarten oder den Waldkindergarten, die beide auf dem Gelände angesiedelt sind, und verbringen so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft, egal bei welchem Wetter.
Hof mit Geschichte
Dass Kinder von Beginn an verantwortungsvoll mit der Natur umzugehen lernen, lag auch Emilie Strejčková am Herzen. Die mittlerweile verstorbene Ini-tiatorin des Projekts „Toulcův dvůr“ setzte sich bereits Anfang der neunziger Jahre für Umweltbildung und die Rekonstruktion des Gehöfts in Hostivař ein, von dessen langer Geschichte damals nur eine Ruine übrig geblieben war. Historisch besonders wertvoll war und ist der Getreidespeicher, der Mauern einer gotischen Festung enthält.
Diese wurde auf einem Felsvorsprung oberhalb des Baches Botič errichtet und bereits im 14. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnt. Im Jahr 1577 wurde Hostivař und mit ihm die Festung vom Obersten Burggraf von Böhmen Wilhelm von Rosenberg gekauft. Bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts lieferte das inzwischen umgebaute Gehöft frisches Fleisch, Eier und Gemüse in die Prager Paläste. Von 1870 bis 1919 mietete die Aktiengesellschaft „Erste Böhmische Zuckerraffinerie Modřany“ den Hof.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Areal verstaatlicht. Neuer Mieter wurde František Toulec, der das Gelände landwirtschaftlich nutzte, bis es 1950 zwangsgeräumt wurde. Toulec wurde erst später zum Namenspatron des Hofes, dessen mittlerweile hochbetagter Sohn komme bis heute gelegentlich vorbei, erzählt Škvařil. Nachdem Toulec das Gelände verlassen musste, wandelten die staatlichen Behörden es in einen Betrieb um, in dem aus Lebensmittelabfällen Mischfutter für Schweine hergestellt wurde, aus den Ställen wurden Kartoffellager, im Hof eine Werkküche eingerichtet, um die Angestellten zu versorgen.
Von diesem Kapitel der Geschichte des Hofs ist heute nichts mehr zu sehen. In den vergangenen 20 Jahren wurde er komplett renoviert, die Gebäude leuchten auch im grauen Novembernebel in verschiedenen Orangetönen. Der Weg zurück zum Ausgang führt an den Pferdeställen vorbei. Davor stehen Schubkarren voller Mist, auf dem eine Handvoll Tauben nach Nahrung pickt. Direkt dahinter wartet die Hauptstraße, die Bushaltestelle, die Plattenbausiedlung.
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