„Wir dürfen nicht die Augen verschließen“
Intellektuelle fordern Regierungen auf, mehr Flüchtlinge aufzunehmen
18. 12. 2014 - Text: Marcus HundtText: mh/čtk; Foto: Mohamed Ali MHENNI
Weltweit befinden sich laut UN-Angaben fast 52 Millionen Menschen auf der Flucht. Und Europa unternimmt dagegen viel zu wenig. Darin sind sich nicht nur die 30 NGOs einig, die in der vorigen Woche vor allem eine stärkere Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien forderten. „Europa sollte sich moralisch verpflichtet fühlen, sich diesen Menschen zu öffnen“, meint auch der tschechische Religionsphilosoph Tomáš Halík. „Die Zeit, in der wir leben“, würde in vielerlei Hinsicht an den Untergang des Römischen Reiches erinnern, dem religiöse und soziale Umbrüche sowie jahrzehntelange Bürgerkriege vorausgingen. Vor dieser Entwicklung dürften auch tschechische Politiker nicht länger die Augen verschließen, klagt Halík. Allerdings scheint die Regierung in Prag genau das zu tun, will sie doch erst im kommenden Jahr über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge entscheiden.
Der Wirtschaftswissenschaftler Jan Švejnar hält dieses Zögern allein schon aus ökonomischen Gründen für einen Fehler: „Ganz Europa braucht mehr Menschen, vor allem junge. Die Frage ist also nicht ob, sondern wie man diese Flüchtlinge integrieren und zu Mitgliedern der Gesellschaft machen kann – sei es vorübergehend oder langfristig.“ Die schlimmste Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges könnte entweder in einem Fiasko enden oder sich positiv auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirken.
Als EU-Mitglied steht auch Tschechien am Scheideweg. Doch welche mittel- oder langfristigen Lösungen hat das Land anzubieten, in dem bislang nur 700 Asylanträge pro Jahr gestellt werden? „Bisher gar keine“, meint Radko Hokovský vom Prager Thinktank „Evropské hodnoty“ („Europäische Werte“). „Es geht nicht darum, mehr Migranten aufzunehmen. Die tschechische Gesellschaft muss erst einmal auf diesen Wandel vorbereitet werden“, fordert Hokovský. Dennoch sollte Tschechien so früh wie möglich ein Zeichen setzen, „indem es zumindest eine begrenzte Anzahl von Syrern aufnimmt.“
Warum sich die tschechische Gesellschaft so schwertut mit den Flüchtlingen, weiß der Soziologe Jan Hartl: „Für viele Menschen stellen sie eine imaginäre Bedrohung dar, etwas, das sie nicht kennen. Wir sind zu einem unnatürlich homogenen Volk geworden, nachdem wir die deutsche Minderheit vertrieben haben. Mit einer Welle von Flüchtlingen aus einer anderen Kultur wissen sich hierzulande weder die Politiker noch die Behörden einen Rat.“
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