Mühsamer Prozess
Als Präsident wollte Václav Havel das deutsch-tschechische Verhältnis auf eine neue Grundlage stellen
4. 2. 2015 - Text: Josef FüllenbachText: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/Stanislav Zbyněk
„Als Havel zu uns stieß in München, steckte er sich erst einmal eine Zigarette an, atmete tief durch und stellte erleichtert fest: Jetzt bin ich ja wohl unter Freunden und außerhalb des Protokolls. Wir haben das als eine Auszeichnung begriffen.“ So erinnert sich Antje Vollmer, Politikerin der Grünen und langjährige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, noch heute an die Ankunft von Václav Havel am 2. Januar 1990 in München. Dieser kam aus Ost-Berlin, wo er am gleichen Tage der noch existierenden DDR einen kurzen Besuch abgestattet hatte.
Nach den Feiern zum Jubiläum der Samtenen Revolution, die vor einem Vierteljahrhundert im November 1989 für Prag und die Tschechoslowakei den Weg zurück nach Europa und in die westliche Welt öffnete, folgt nun die Erinnerung an die einzelnen Schritte, die das Land allmählich auf die Eingliederung in die europäischen und atlantischen Strukturen vorbereiteten. Eine entscheidende Rolle spielte in diesem Prozess der Ende Dezember 1989 gewählte neue Präsident der Tschechoslowakei Václav Havel. Durch seine Persönlichkeit und Ausstrahlung verschaffte er dem Land ein weltweites Ansehen, von dem Tschechien noch heute zehrt. Die Václav-Havel-Bibliothek (Knihovna Václava Havla, KVH) in Prag hat deshalb einen Veranstaltungszyklus unter dem Titel „Unser Weg zurück auf die Landkarte der Welt“ begonnen, der vor allem den ersten Reisen Havels ins Ausland gewidmet ist.
Da die erste Auslandsreise des frisch gewählten Präsidenten nach Deutschland führte, hat die KVH zusammen mit dem Prager Goethe-Institut im Rahmen dieses Zyklus eine erste Diskussionsrunde am 29. Januar 2015 zu dem Thema „Havel und Deutschland“ veranstaltet. Es waren eigentlich zwei verschiedene Diskussionsrunden. Zunächst blickten Antje Vollmer, František Černý (ehemaliger tschechischer Botschafter in Deutschland), Milan Horáček (Politiker der Grünen, langjähriger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag) und Joachim Bruss (Co-Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und zuvor lange Jahre Dolmetscher der Deutschen Botschaft in Prag) als Zeitzeugen auf den Prozess der deutsch-tschechoslowakischen beziehungsweise später der deutsch-tschechischen Annäherung zurück. Einig war sich die Runde darin, dass Havel große Verdienste zukommen an dem mühevollen, doch letztlich erfolgreichen Prozess bis zur Unterzeichnung der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997.
Der Weg dorthin war steinig. 40 Jahre Eiserner Vorhang hatten keinen wirklichen Dialog zugelassen. Deutsche und Tschechen wussten nur wenig voneinander, und dieses Wenige war sowohl durch jahrelange einseitige und ideologische Darstellungen als auch durch die für viele Menschen auf beiden Seiten schmerzhaften Erfahrungen aus der Vergangenheit belastet. Umso größer war das Wagnis, das Havel auf sich nahm, indem er Deutschland als Ziel seiner ersten Auslandsreise wählte – und das nur wenige Tage nach seiner Wahl zum Präsidenten.
Im damaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker hatte er einen idealen Partner. Beide verstanden es, auf der Klaviatur von Symbolen zu spielen. Es war natürlich in vieler Hinsicht symbolhaft, dass Havel seinen Besuch in der Bundesrepublik in München stattfinden ließ, der „Stadt der Bewegung“, von der aus sich die Nazis auf ihren langen Marsch aufmachten, der Stadt eines als Abkommen verkleideten Diktats, das in Prag immer noch Emotionen erzeugt, der Hauptstadt eines Bundeslandes, das über die vielen vertriebenen Sudetendeutschen als „vierten Stamm Bayerns“ die Schirmherrschaft übernommen hatte, und schließlich einer Stadt, die nach damaligen bundesrepublikanischen Maßstäben als Hort reaktionären Denkens galt. Zwar warf Bruss ein, München sei auch deswegen gewählt worden, weil Weizsäcker gerade in Bayern auf Urlaub weilte. Doch kommt es eben bei solchen zufälligen Konstellationen darauf an, daraus das Richtige zu machen, wie Vollmer betonte. Ihrer Ansicht nach lag für Havel der Schlüssel für die Verständigung mit den Deutschen eben in München.
Weizsäcker als Verbündeter
Eine Hypothek stand dem gegenseitigen Verstehen von Deutschen und Tschechen von Anfang an im Wege, nämlich die grundsätzlich unterschiedliche Wahrnehmung der gemeinsamen Vergangenheit. Wie Daniel Kaiser im vor kurzem erschienenen zweiten Band seiner Havel-Biographie bemerkte, galt für die Tschechen die Abtrennung der Sudetengebiete und die nachfolgende sechsjährige Okkupation mit ihren zahlreichen Verbrechen – Lidice und Ležáky sind die bekanntesten Chiffren des Grauens – als eine unerhörte Zeit der Erniedrigung und des Leidens. In der deutschen Erinnerung an die Untaten der Nazis spielte dagegen das Geschehen in Böhmen und Mähren, wenn überhaupt, eine eher untergeordnete Rolle; in den dunklen Schatten von Auschwitz, Polen und Russland waren die Vergehen im damaligen Protektorat sozusagen kaum erkennbar. Stattdessen stand aus deutscher Perspektive das Unrecht der Vertreibung im Vordergrund – oft genug ohne auch nur die unmittelbare Vorgeschichte mit in Betracht zu ziehen. Anfang der neunziger Jahre war wohl nur Havel dazu in der Lage, diese Asymmetrie in der Wahrnehmung des gegenseitig verübten Unrechts zu überwinden und den notwendigen Lernprozess anzustoßen.
Havel sah in Weizsäcker seinen wichtigsten Verbündeten auf deutscher Seite. Hatte Weizsäcker nicht bereits 1985 eine bahnbrechende Rede gehalten, welche die deutsche Erinnerung an die Vergangenheit nachhaltig beeinflusste? Noch im Oktober 1989, also noch vor Mauerfall und Prager Revolution, hatte Havel in einem Brief an Weizsäcker geschrieben, er „verurteile die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Sie erschien mir immer als eine zutiefst unmoralische Tat (…). Auf Böses wiederum mit neuem Bösen zu antworten, bedeutet, das Böse nicht zu beseitigen, sondern es auszuweiten.“ Am 2. Januar 1990 in München sprach Havel dasselbe Thema gegenüber Weizsäcker erneut an, jetzt schon mit der Autorität seines Amtes: „Für unsere Seite möchte ich gerne erklären: Wir lehnen den Gedanken der Kollektivschuld als moralisch nicht zu rechtfertigen ab. Falls sie gegenüber den tschechoslowakischen Bürgern deutscher Nationalität angewandt wurde, dann war das entschieden nicht richtig.“
Seiner Zeit voraus
Havel wollte damit die Kette gegenseitiger Schuldvorwürfe unterbrechen und dazu beitragen, das beiderseitige Verhältnis auf eine neue Grundlage zu stellen, den Blick frei zu machen für die Zukunft. Bei seinen Mitbürgern jedoch stieß er mit seinen Schritt auf eine Welle von Kritik und Unverständnis; man kreidete ihm noch lange an, er habe sich bei den Deutschen entschuldigt. Auf Seite der Deutschen fand seine großherzige Geste nicht die erhoffte Resonanz; dem Schritt Havels folgte kein deutsches Entgegenkommen in den für die Tschechoslowakei und später Tschechien wichtigen Fragen. Offensichtlich kamen Havels Offenheit und mutiges Vorpreschen zu früh, er „war seiner Zeit immer voraus“, wie Černý anmerkte. Doch eine „Entschuldigung“ im wörtlichen Sinne hat es damals nicht gegeben (Bruss). Havel selbst hat später in seinem langen Gespräch mit Karel Hvížďala (2005) dazu festgestellt, er habe „sich für nichts entschuldigt, übrigens auch deshalb, weil ich dafür von niemandem ein ausdrückliches Mandat hatte. Offen gesagt, diese Entschuldigungsgesten – als gewisses eigentümliches Ritual – mag ich nicht sehr. Wichtiger ist die sachliche und absolut unvoreingenommene Reflexion, gegebenenfalls Taten, mit denen sich die Folgen eines Unheils zum Teil gutmachen lassen.“
Freilich war Havel nicht nur seiner Zeit voraus. Er war auch politisch noch völlig unerfahren, wenn man so will in gewisser Hinsicht naiv. Vor allem machte er kaum einen Unterschied zwischen persönlichen Beziehungen und solchen zwischen Staaten. Havel fühlte sich Weizsäcker sehr nahe, er bezeichnete ihn sogar als seinen Freund.
Doch schwierige Fragen waren damit nicht aus der Welt zu schaffen, sie mussten mühsam zwischen den Regierungen gelöst werden. Dabei erlebte Havel später herbe Enttäuschungen, zum Beispiel nachdem er im Mai 1991 Helmut Kohl den Vorschlag unterbreitete, denjenigen Sudetendeutschen, die sich auf Dauer in der alten Heimat ansiedeln wollten, die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft sowie die Möglichkeit der Teilnahme an der gerade anlaufenden Privatisierung anzubieten. Sollte die deutsche Seite ihm in Entschädigungsfragen und bei der Erledigung gegenseitiger Ansprüche entgegenkommen, hoffte Havel die wesentlichen mit der Vergangenheit verknüpften Fragen vom Tisch zu bekommen. Aber die deutsche Seite nahm den Vorschlag nicht an. Nach Havels Eindruck „kam er ihr offenbar zu kühn vor, und ich verdächtige Kanzler Kohl ein wenig, dass er die Ansprüche nicht einschlafen ließ, weil er nicht wollte, dass sie ein für allemal vom Tisch gefegt wären. Manchmal ist es vorteilhaft, Probleme durch eine gewisse Untätigkeit am Leben zu halten, weil man nie weiß, ob sie einmal für etwas gut sein werden.“
Ausfluss des Bösen
Diese Erfahrungen brachten Havel zu der Einsicht, dass persönlicher Charme, guter Wille und Geradlinigkeit in der Politik zwar nützlich sind, aber es nicht ersparen, auf vielfältige Interessen und Faktoren Rücksicht zu nehmen und notfalls einen langen Atem zu haben. Seine anfängliche Bewunderung für Kohl als großer Europäer wich einer weniger schmeichelhaften Einschätzung als politischer Krämer. Folgerichtig fügte er sehr im Sinne der Mehrheit der tschechischen Bevölkerung seinem mutigen Vorstoß von Anfang 1990 in der Vertriebenen-Frage in seiner großen Rede im Karolinum am 17. Februar 1995 klare Worte über Ursache und Wirkung hinzu, die in der Aussage gipfelten: Das Böse habe eine infektiöse Natur, „das Böse der Vertreibung war nur ein Ausfluss des Bösen, das ihm voranging.“
Weitere zehn Jahre später meinte Havel rückblickend, er könne „bestimmt stolz auf die guten Beziehungen sein, die wir mit Deutschland seit Beginn unserer Demokratie haben und die in unserer Geschichte nie so gut waren.“ Dass die beiderseitigen Beziehungen spätestens seit der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 in normalen Bahnen verlaufen, war denn auch das Fazit der zweiten Gesprächsrunde am 29. Januar in der KVH, die sich dem heutigen Verhältnis der beiden Völker zuwandte. Von einigen wurde zwar beklagt, dass man zu wenig voneinander wisse, dass das Interesse für den Nachbarn vor allem auf deutscher Seite kaum vorhanden sei und dass noch viel getan werden müsse, um beide Seiten einem wirklich intensiven Austausch miteinander näher zu bringen. Dem entgegnete der Leiter des Goethe-Instituts Berthold Franke jedoch mit der provozierenden Frage, warum sollten sich denn Nachbarn überhaupt füreinander besonders interessieren? Die Geschichte sei voll von Beispielen, dass sich Völker zu viel füreinander interessiert hätten – bis hin zum gegenseitigen Totschlagen. Was Peter Sloterdijk mit Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen formuliert habe, gelte auch hier: Entfasziniert euch! Seid nicht mehr so neugierig aufeinander! Dann werde nämlich das Risiko, dass man sich wieder in die Quere komme, geringer.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“