In den Adern der Stadt
Unter den Straßen Prags verlaufen 93 Kilometer Tunnel für Stromkabel, Wasserrohre und Telefonleitungen. Eine Exkursion ins Erdreich
11. 2. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Kolektory
Das Haus mit der Nummer elf am Heuwagplatz (Senovážné náměstí) sieht aus wie alle anderen in der Straße: Altbau mit hohen Fenstern und renovierter Jugendstilfassade; Fenster und Balkon sind mit Ornamenten verziehrt. Auch im Inneren vermutet der Besucher ein übliches Wohn- und Bürogebäude – bis er den Keller betritt. Dort geht es 30 Meter in die Tiefe, in die dunkle Prager Welt der Kabeltunnel.
93 Kilometer umfasst das unterirdische Gänge-Netz unter der Hauptstadt, rund 18 Kilometer davon verlaufen im Zentrum. Egal, ob man vor dem Rudolfinum steht oder am Wenzelsplatz, ob man durch die Einkaufsstraße Na příkopě spaziert oder durch die Vodičkova-Straße: Unter Straßenbahngleisen, Asphalt und Pflastersteinen erstrecken sich überall die Kabeltunnel, die auf Tschechisch „kolektory“ (Kollektoren) genannt werden. Fünf bis 45 Meter tief in die Erde eingegraben und stellenweise so groß wie die Röhren, durch die die Prager U-Bahn rauscht, bieten sie Platz für alles, was die Stadt zum Leben braucht. Telefon- und Datenleitungen, Rohre für Trinkwasser und Erdgas sowie verschiedene Arten von Stromkabeln sind nur einige Beispiele.
Eigentümer des Tunnel-Netzes ist die Hauptstadt selbst. Seit einigen Jahren sind die Verantwortlichen im Rathaus der Meinung, dass die Kollektoren nicht nur ein Bestandteil der Infrastruktur seien, sondern eine technische Einrichtung von besonderer Bedeutung, die auch für interessierte Bürger zugänglich gemacht werden sollte. Immer mittwochs und freitags sowie jeden letzten Samstag im Monat öffnet sich deshalb der Eingang in die Unterwelt für angemeldete Besucher.
Die Besichtigungen werden von Mitarbeitern der Firma Kolektory Praha geführt, so der Name des Unternehmens, das im Auftrag der Stadt das Tunnelnetz unter dem Zentrum verwaltet und überwacht. Wer mit in die Tiefe möchte, darf weder unter Höhenangst noch Klaustrophobie leiden und muss am Eingang seine Ausweisnummer angeben – die Stadt will wissen, wer in ihren Adern herumwandert. Das Interesse daran sei groß, sagt Dana Janečková, Mitarbeiterin von Kolektory. Seit 2007 zähle sie jährlich etwa 2.000 Besucher, darunter Experten ebenso wie technikbegeisterte Laien, Kinder und Senioren. „Eine Bedingung ist, dass die Teilnehmer gut zu Fuß sind“, so Janečková, während der gut eineinhalb Stunden langen Tour seien einige Höhenmeter zu überwinden.
Kontrolle rund um die Uhr
Die Führung übernimmt an diesem Tag Milan Jelínek, Techniker bei Kolektory. Das Publikum bilden zwei ältere Herren und zwei Jugendliche, eine Mutter mit Kindern und zwei Pärchen. Im Kontrollraum gibt der Techniker eine Einweisung in die Welt der Tunnel. Einer seiner Kollegen sitzt derweil vor sieben Bildschirmen und drei Telefonen. Während Jelínek spricht, klingelt und piepst es immer wieder. Überall in den unterirdischen Kanälen sind Messgeräte angebracht, die ständig an den Kellerraum am Heuwagplatz ihre Werte melden. Kontrolliert wird rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, zum Beispiel die Temperatur in den Schächten – fast immer um die zehn Grad Celsius – oder ob aus einer Leitung Gas austritt.
Im Moment gibt es keine Probleme, sodass die eigentliche Führung beginnen kann. Mit grünen Schutzhelmen und gelben Leuchtwesten ausgestattet, warten die Besucher vor dem Aufzug, der bis zu 2.000 Kilogramm schafft, wenn er neues Material in die Tunnel transportieren muss. Nach wenigen Sekunden öffnet sich die Aufzugtür im vierten Untergeschoss, etwa 30 Meter unter der Erde.
Wie Jelínek erklärt, befindet sich hier eine Art Bahnhof für Menschen und Material. Die Fahrzeuge für den Gütertransport stehen weiter hinten, vorne wartet der Zug, der sonst die Arbeiter befördert, wenn sie die Anlagen warten oder etwa ausbessern.
Es sieht aus wie in einem Bergwerk: „Bitte still sitzen bleiben, nichts aus dem Fenster strecken“, warnt Jelínek. Wenige Sekunden später wissen die Besucher, warum. Der Zug, der auch einem Kinderkarussell entstammen könnte, setzt sich mit einem Ruck und einem lauten Hupen in Bewegung. Links und rechts rauschen metallene Rohre und Halterungen vorbei. Das blecherne Scheppern schmerzt ein wenig in den Ohren, der Geruch ist stellenweise leicht modrig, doch nach ein paar Hundert Metern ist die Fahrt schon zu Ende.
„Wir befinden uns jetzt unter der Nationalbank“, erklärt der Techniker und zeigt, wo Stromkabel und Trinkwasserrohre verlaufen. Obwohl hier auch überall Telefonleitungen liegen, ist es mit der Kommunikation im Tunnel nicht so einfach. Tief unter der Erde funktioniert weder Funk- noch Handynetz, deswegen ist alle 50 Meter ein Telefon mit Kabel installiert. Für die Orientierung sorgen grüne Schilder, die die Entfernung zum nächsten Notausstieg anzeigen, und Wegweiser mit Aufschriften wie „Pulverturm“ oder „Altstadt“.
Geringere Schäden
Die Idee, sämtliche Rohre und Leitungen in unterirdischen Tunneln zu bündeln, entstand in Europa bereits im 19. Jahrhundert. 1863 wurde ein erstes Netz in London eingeweiht, 1920 folgte Zürich und in den Jahren 1928 bis 1929 Berlin. In Prag wurden die ersten Kollektoren in den siebziger Jahren in den größeren Vorstadtsiedlungen angelegt. Der erste wurde 1971 in Ďáblice in Betrieb genommen. Während in den damals neu entstehenden Siedlungen problemlos erst die Tunnel gegraben werden konnten, wurde das Netz unter der Altstadt mit weit größerem Aufwand im Nachhinein unter den bestehenden Gebäuden errichtet.
Der Vorteil der Kollektoren sei, dass Reparatur- und Wartungsarbeiten durchgeführt werden können, ohne dass es jemand merke, so Jelínek. Ist hier eine Leitung oder ein Rohr kaputt, muss keine Straße gesperrt und aufgerissen werden. Auch die Schäden und die Kosten für die Reparatur fielen geringer aus, zudem könne bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit gearbeitet werden.
Schon eine gute Stunde ist unter der Erde vergangen, nach der Zugfahrt mussten die Besucher mehrere Industrieleitern hinauf- und andere wieder hinuntersteigen, um die unterirdischen Höhenunterschiede zu überwinden. Am Ende wird der Gang wieder breiter, aus den Leitern werden Stufen und als der Techniker eine Tür öffnet, steht man plötzlich, mit Schutzhelm und Warnweste, mitten im Einkaufszentrum Slovanský dům.
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